18.01.2023, 14:10
Was in Polen bislang gut und was schlecht lief
Die deutsche Nationalmannschaft legte eine perfekte Vorrunde bei der Handball-WM 2023 hin. Zeit für ein erstes Zwischenfazit.
Was wurde vor der WM in Polen und Schweden nicht alles über Juri Knorr, der dem kicker im März 2021 ein spannendes Interview gab, geschrieben. Der Spielmacher der Rhein-Neckar Löwen, der bis dato eine außergewöhnliche Bundesliga-Saison spielt und Dritter der Torschützenliste (117 Treffer) ist, wandelte bei den Generalproben gegen Island zwischen "Genie und Wahnsinn". Bei der 30:31-Niederlage haderte Bundestrainer Alfred Gislason öffentlich mit "unglaublich teuren Fehlern" seines Mittelmanns, beim 33:31 gegen den gleichen Gegner tags darauf machte Knorr dann 13 Tore.
Diese Leistung konservierte der mit 22 Jahren jüngste Spieler im DHB-Kader auf der Reise nach Polen. Acht Treffer zum Auftakt gegen Katar (31:27) waren entscheidend, beim 34:33 gegen Serbien führte er bemerkenswert reif Regie. "Als wäre er schon über 30 Jahre alt", lobte der Bundestrainer. kicker-Kolumnist Bob Hanning imponierten besonders Knorrs Signale in den Auszeiten.
In der Vorrunde wurde Knorr den teils sicherlich überhöhten Erwartungen an ihn gerecht. Der Mittelmann, der sich mitunter beim FC Barcelona ausbilden ließ, zeigte eindrucksvoll, warum ihn viele als den prägenden Nationalspieler der kommenden Jahre sehen.
Mit 20 Assists ist er aktuell der Top-Vorbereiter des Turniers. Dazu kommen 16 Tore, die ihn auch zum derzeitigen Top-Scorer der WM machen. Durchaus rosige Perspektiven mit Blick auf Heim-EM 2024 und Heim-WM 2027.
Andreas Wolff (insgesamt 23 Paraden, Fangquote von 33 Prozent) überragte gegen Katar, Joel Birlehm (15 Paraden, Fangquote von 32 Prozent) gewann die Partie gegen Serbien am Ende fast im Alleingang, zum Abschluss der Vorrunde gegen Algerien sammelten beide Argumente für sich.
Bundestrainer Alfred Gislason darf sich in seiner Wahl der Torhüter durchaus bestätigt fühlen. Gerade die Nominierung vom unerfahrenen Birlehm wurde kritisch beäugt, doch der Schlussmann der Rhein-Neckar Löwen rechtfertige Gislasons Entscheidung. Behalten beide Keeper ihre Form bei, können sie auch in noch wichtigeren (K.-o.-)Spielen zum Zünglein an der Waage werden.
Das größte Sorgenkind der deutschen Mannschaft ist fraglos die Abwehr - und auch einer der Gründe, warum Wolff und Birlehm bis dato derart glänzen (mussten). Nach dem zweiten Spieltag hatte die DHB-Auswahl bereits mehr Gegentore (60) als Chile und Kap Verde (je 59) kassiert. Sowohl in der 6:0 als auch in der 3:2:1 besteht großer Steigerungsbedarf.
Gerade wenn man sich das Gruppenfinale zwischen Norwegen und Niederlande, beides deutsche Gegner in der Hauptrunde, ansieht, wird deutlich: Von aggressiver, engagierter, bedingungsloser Abwehrarbeit, die andere Teams schon in der ersten Turnierphase an den Tag legten, ist Deutschland noch ein gutes Stück entfernt.
Im Vorrundenfinale gegen Algerien testete Gislason die Variante mit Simon Ernst im Mittelblock. Doch ganz gleich, wer in den nächsten Spielen in der Mitte deckt: Ohne eine klare Leistungssteigerung in der Abwehr wird Deutschlands Weg früher als erhofft enden.
Was die deutsche Abwehrschwäche in Polen bis dato kaschiert: Der beste Angriff "seit sehr, sehr langer Zeit von einer deutschen Nationalmannschaft", wie es kicker-Kolumnist Hanning am Mittwoch treffend formuliert. 102 Treffer in drei Vorrundenspielen bedeuten den viertbesten Wert aller Mannschaften. Die DHB-Auswahl beeindruckt mit Ideenreichtum, Spielwitz und Abschlussstärke.
Besonders das Spiel über den Kreis hat ein ganz neues Level erreicht: Gegen Katar erzielten Deutschlands Kreisläufer Johannes Golla und Jannik Kohlbacher zusammen fünf Treffer, gegen Serbien zehn - und gegen Algerien zwölf. Kohlbacher (Wurfquote von 94 Prozent bei der WM) begeisterte gegen die Algerier mit zehn Treffern aus zehn Versuchen. Gegen Serbien hatte Top-Torschütze Mertens bei sieben Treffern keinen einzigen Fehlwurf vorzuweisen.
Nicht nur Knorr sorgt im deutschen Spiel für den nötigen Überraschungsmoment. Regelmäßig bedienen beispielsweise auch die Außen die Kreisläufer, Kempa-Tore wie von Mertens mit seinem ehemaligen Magdeburger Teamkollegen Christoph Steinert sind fester Bestandteil des Repertoires.
Eine gute Nachricht, die Gislason nicht erst im Algerien-Spiel übermittelt bekam: Die deutschen Back-ups funktionieren. Birlehm sprang für Wolff in die Bresche, Kohlbacher steht Golla offensiv in nichts nach, Steinert ersetzte Kai Häfner adäquat und gab auch Patrick Groetzki nötige Verschnaufpausen. Luca Witzke und Rune Dahmke sind im Schatten von Knorr und Mertens bereit für Höchstleistungen. Dazu scharrt einer wie Djibril M'Bengue im rechten Rückraum als dritte Option mit den Hufen.
Apropos M'Bengue: Der Linkshänder vom Bergischen HC war gegen Algerien das Paradebeispiel dafür, dass endgültig alle Spieler im deutschen Kader im Turnier ankommen durften. Zuvor war er noch in keinem Länderspiel im Jahr 2023 eingesetzt worden. Diesmal erhielt M'Bengue reichlich Spielzeit und zahlte das mit Leistung sowie vier Toren zurück.
Auch Witzke, Paul Drux oder Abwehrspezialist Ernst sammelten wichtige Spielpraxis und Selbstvertrauen. Gislason konnte rotieren, der "zweite Anzug" bedankte sich mit einem Kantersieg. Die erste deutsche Sieben hat damit praktisch ein Spiel weniger in den Knochen. Denn Norwegen und die Niederländer, die die ärgsten Konkurrenten um einen Platz im Viertelfinale sein werden, lieferten sich am Dienstagabend einen packenden Fight um den Gruppensieg - der erst in den Schlusssekunden entschieden wurde.
"Wir müssen jedes Spiel eine Schippe drauflegen", forderte Gislason und meinte am Dienstag damit fraglos die Abwehr des Europameisters von 2016. "Wenn wir das schaffen, kann viel passieren." Vielleicht ist ja sogar mehr als das Viertelfinale drin.
Maximilian Schmidt