20.04.2020, 07:47
Europameister von 2016 spricht im großen kicker-Interview, Teil 1
Kaum ein deutscher Handballer polarisiert so wie er: Andreas Wolff (29) zählt zu den besten Torhütern der Welt und lechzt doch seit 2016 nach dem nächsten großen internationalen Titel. Im ersten Teil des großen kicker-Interviews erklärt der Nationalkeeper unter anderem, warum es in Kielce damit klappen könnte.
Leicht ist Andreas Wolff nicht zu erreichen. Deswegen erfolgt der erste Kontakt über den DHB und schließlich Kevin Gerwin, der dem deutschen Nationaltorhüter bei Vermarktungsfragen beratend zur Seite steht. Gerwin ist neben seiner Funktion als Hallensprecher der Nationalmannschaft vor allem für die Rhein-Neckar Löwen tätig, weswegen er Wolff lange als "Gegner" kannte. Seit einem spontanen, dreistündigen Gespräch im schleswig-holsteinischen Strande im Rahmen von Gerwins Sommerurlaub haben sich die beiden aber vor einigen Monaten zusammengetan. Das Osterfest in Polen erlebte Wolff trotz vieler neuer Verbindungen allerdings nach eigener Aussage "sehr einsam", was speziell den aktuellen Umständen wegen der Corona-Pandemie geschuldet sei. Die Krise öffnete aber auch die Tür für ein fast einstündiges Gespräch über die neue sportliche Heimat, einen bemerkenswerten Trainer, die Nationalmannschaft, nicht nachvollziehbare Entscheidungen - und Probleme, die auch Manuel Neuer kennt.
Die wichtigste Frage vorneweg: Wie geht es Ihnen und Ihrer Familie gesundheitlich?
Nach meinem neuesten Kenntnisstand sind wir - dreimal auf Holz geklopft - bisher von Ansteckungen verschont geblieben, wir halten uns allerdings auch alle sehr streng an die Vorgaben. Meine Mutter arbeitet in einem Krankenhaus in der Röntgenabteilung. Einer meiner zwei Brüder wohnt zwar nur einen Ort von meinen Eltern entfernt und trotzdem wurden die regelmäßigen Besuche eingestellt. Wir nehmen das Thema sehr ernst.
Das ist schön zu hören, dann können wir zum Sport übergehen. Vorab natürlich noch unseren herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten polnischen Meisterschaft. Nach dem polnischen Vorbild sehen Sie auch einen Abbruch in der Bundesliga als "alternativlos" an. Können Sie das kurz ausführen?
Vielen Dank für die Glückwünsche! In Polen war es ganz angenehm, weil in der regulären Saison lediglich noch ein Spiel zu absolvieren gewesen wäre. Da hätten wir gegen eine Mannschaft aus dem unteren Tabellendrittel gespielt. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir das Spiel verloren hätten, wäre doch sehr, sehr gering gewesen. Die Mannschaft, die über die ganze Saison hinweg die meisten Punkte gemacht hat und das alles entscheidende Spitzenspiel für sich entscheiden konnte, ist eben Meister geworden. In der Bundesliga ist es leider ein bisschen anders, da sind noch einige Spiele mehr zu spielen, weshalb ich natürlich viele Spieler und Funktionäre verstehe, die sich gegen einen Abbruch aussprechen. Andererseits habe ich gelesen, dass es in der Fußball-Bundesliga wieder ein Stück nach vorne geht. Grundsätzlich wäre das auch eine Möglichkeit für den Handball gewesen, wenn es jetzt nicht wie bei den Rhein-Neckar Löwen sieben, acht Infektionen auf einmal gegeben hätte. Das Risiko der Ansteckung wäre da schon sehr groß. Ansonsten hätte ich es durchaus für vertretbar gehalten, den Spielbetrieb nach einer kleinen Vorbereitung wieder aufzunehmen. Die Spieler sind jetzt natürlich komplett aus ihrem Rhythmus heraus. Ich denke aber nicht, dass es weitergeht. Man weiß auch grundsätzlich noch zu wenig über die Ansteckung, als dass man ausschließen könnte, dass die Gefahr komplett überstanden ist.
Wenn die EHF aber jetzt eigene Pläne haben sollte: Bereitet man sich in Kielce in irgendeiner Weise darauf vor, dass in den nächsten Wochen zum Beispiel doch noch das Champions-League-Achtelfinale gegen Celje steigen könnte? (Stunden später sollte die EHF das Final Four in Köln auf Ende Dezember 2020 verschieben)
Wir bereiten uns so gut es geht darauf vor. Allerdings ist das Problem, dass das in dem Fall bedeutet, dass wir individuell Krafttraining machen - mehr nicht. Wir haben uns seit vier Wochen nicht gesehen. Mit Handball haben wir seit fünf Wochen nichts mehr am Hut. So wäre das nächste realistische Ziel der Vorbereitungsstart Ende Juli. Das fände ich persönlich schon sehr hart. Wenn du auch siehst, dass du am Wochenende die Olympia-Qualifikation gespielt hättest. Davor hätte das Achtelfinale der Königsklasse angestanden, jetzt würde ein Viertelfinale warten und im Sommer hättest du im Erfolgsfall Olympische Spiele gehabt. Stattdessen sitze ich seit vier Wochen zu Hause rum und das könnte noch viel länger so bleiben. Eine Pause im Sommer ist ganz schön, aber nach eineinhalb Monaten reicht es auch. Schon während dieser Auszeit will man zurück aufs Feld, wieder trainieren und die Jungs wiedersehen. Vier Monate Pause wären katastrophal. Zumal es noch schwerer als normalerweise werden würde, wieder in den Handball reinzukommen.
Wird das gerade für einen Torhüter - Stichwort Beweglichkeit - noch schwerer, sich da schnell wieder einzufinden?
Auf den ersten Blick würde ich das bejahen, aber auf den zweiten bin ich mir nicht 100 Prozent sicher. Ein Absitzen zum Beispiel ist schwer zu trainieren. Im Garten geht das noch, aber in der Wohnung in den Spagat zu rutschen, ist jetzt nicht das Beste für die Knie. (lacht) Andererseits kann ich aber meine Schnelligkeit und Beweglichkeit erhalten. Feldspieler können ein Eins-gegen-eins oder Torabschlüsse wesentlich schwerer zu Hause simulieren.
"Ich bin es müde auf der Bank zu sitzen", hatten Sie nach dem Wechsel von Kiel nach Kielce erklärt. Ihr Trainer Talant Dujshebaev hat Sie direkt zum Kapitän ernannt und Sie nach starken Auftritten ausdrücklich gelobt. Spüren Sie in Polen uneingeschränktes Vertrauen?
Auf jeden Fall. Aber der Start war natürlich etwas schwerer. Wenn man da hinkommt und es werden große Hoffnungen in einen gesetzt, dann ist das auch ein Stück weit Druck. Das lässt einen nicht kalt, das ist ganz logisch. Die Aufgabe als Kapitän war auch eine Herausforderung, gerade weil es das erste Mal überhaupt für mich ist. Der Trainer und die Mannschaft haben es mir aber leicht gemacht, das Umfeld ist zudem fantastisch und sehr menschlich. Ich fühle mich sehr wohl, spüre hier großes Vertrauen und habe das mit den Leistungen auch untermauern können.
Wie lässt sich die Arbeit mit Dujshebaev - vielleicht auch im Vergleich mit Trainern, die Sie in Ihrer Karriere schon hatten - beschreiben?
Die Arbeit mit Talant ist wirklich fantastisch. Er ist ein absoluter Handball-Fachmann, der teilweise nur ganz profane Dinge anspricht, die aber große Wirkung haben und einem schnell einleuchten. Gleichzeitig ist Talant ein sehr guter Psychologe. Er kann die Stimmung der Mannschaft und auch einzelner Spieler sehr gut lesen, hat zudem eine ganz klare Philosophie. Das macht es sehr angenehm, mit ihm zu arbeiten. Was mir besonders imponiert: Er lebt den Handball mit Haut und Haaren. Er hat für jeden Spieler einen Plan im Hinterkopf und dessen Rolle innerhalb der Mannschaft immer im Blick. Das ist eine bewundernswerte Eigenschaft, wenn du die gesamte Mannschaft konzeptionell einbindest. Man spürt auch immer wieder, dass er selbst einer der besten Spieler der Geschichte war (u.a. Welthandballer 1994 und 1996, d.Red.).
Einiges hatten Sie sich bei Ihrem Wechsel auch von der Zusammenarbeit mit Torwart-Trainer Slawomir Szmal (2005 bis 2011 bei den Rhein-Neckar Löwen) versprochen. Haben sich Ihre Erwartungen diesbezüglich erfüllt?
Auf jeden Fall. 'Kasa' (Spitzname Szmals, d.Red.) und ich haben in sehr vielen Bereichen eine ähnliche Idee vom Torhüterspiel. Ich profitiere auch unheimlich von seiner Erfahrung, er war einer der besten Torhüter aller Zeiten. Das ist für mich Gold wert, von so jemandem Input zu bekommen. Hier und da sind es zwar nur Kleinigkeiten, aber ich habe schon deutlich gespürt, dass mir die Zusammenarbeit sehr gut getan hat.
Bei Ihrem Transfer haben Sie von "einem der besten Teams der Welt" gesprochen, zu dem Sie wechseln und betont, dort möglichst "alles" gewinnen zu wollen. Sehen Sie den aktuellen Kader als stark genug dafür an?
Der Kader reicht von der Stärke her definitiv dafür aus. Wir haben Kiel drei Punkte abgeknöpft, auch wenn es im zweiten Spiel nicht mehr um allzu viel für den THW ging. Ärgerlich war, dass wir zweimal gegen Montpellier verloren haben. Aber wir haben beispielsweise den aktuellen Champions-League-Sieger Vardar Skopje zu Hause mit zehn Toren deklassieren können (35:25 am 16. November, d.Red.). Wir haben schon eine Riesenqualität und nicht umsonst vier aktuelle Europameister, mit Igor Karacic den Spielmacher-MVP der EM, mit Blaz Janc den besten Rechtsaußen des Turniers und Artsem Karalek den besten Kreisläufer der Zwischenrunde im Kader. Ich denke schon, dass wir die Chance gehabt hätten, nach Köln zu fahren. Ich bin überzeugt, dass wir uns gegen Celje, aber auch PSG in zwei Spielen hätten durchsetzen können.
Sie haben es angesprochen, gegen Gruppensieger Kiel hat Kielce beide Spiele nicht verloren. Das waren sicherlich keine ganz normalen Spiele für Sie - schwang da auch ein bisschen Genugtuung mit?
Nein, denn ich bin ja im Guten mit dem THW auseinandergegangen. Ich habe die Zeit dort insgesamt sehr genossen, auch wenn es schwierige Phasen gab. Aber wo gibt es das nicht? Insgesamt habe ich die Zeit sehr positiv in Erinnerung, habe auch immer noch Kontakt mit einigen Spielern. Und da freut man sich natürlich, wenn man gegen seine alten Mitspieler und gerade gegen den Gruppensieger gewinnt.
In der Liga wurden Sie von Dujshebaev einige Male geschont, weil er nicht wollte, dass Sie mehrere Stunden im Bus sitzen. Ist das für einen vom Ehrgeiz getriebenen Profi wie Sie gerade am Anfang auch schwer zu akzeptieren?
Am Anfang war es definitiv ungewohnt, aber im Endeffekt hat Talant eine klare Philosophie. Und die beinhaltet, dass alle Spieler ihre Pausen kriegen. Klar möchte man spielen, aber diese Auszeiten sind wichtig. Ich habe das in einigen Spielen schon gemerkt, dass ich tatsächlich hier und da noch ein paar Körner übrig hatte, weil ich eine Woche Pause hatte. Auch die mentale Belastung fällt deutlich geringer aus.
Aus der Bundesliga kommen immer wieder kritische Stimmen zum Thema Belastung. Sie sind jetzt auf der "anderen" Seite und haben es ja auch schon angesprochen. Sehen Sie wirklich einen Vorteil für Ihre Mannschaft in internationalen Wettbewerben?
Das würde ich teilweise bejahen. Aber es gibt eben auch die Schattenseiten: Als wir beispielsweise das erste Spiel gegen den THW hatten, da hatten sie schon zwei, drei richtige Brocken vor der Brust gehabt, wir noch nicht. Ich denke aber gerade gegen Ende der Saison, wenn der Kräfteverschleiß doch zu spüren ist, hätten wir noch ein paar Körner mehr gehabt. Mannschaften wie der THW wären einfach müde gewesen, was womöglich den Ausschlag hätte geben können. Insgesamt ist es für die Gesundheit einfach besser, wenn du nicht alle drei Tage irgendwohin reist und da wirklich bis zum Äußersten gefordert wirst.
Wie ist grundsätzlich das Leben als Profi-Handballer in Kielce? Werden Sie auf der Straße erkannt, angesprochen oder sogar um Fotos gebeten?
Um Fotos werde ich tatsächlich weniger gebeten als in Deutschland. Ich glaube, hier ist man zurückhaltender. Ich werde schon erkannt auf der Straße, aber es unterscheidet sich nicht groß von meinem Leben in Deutschland. Ab und zu unterhält man sich auch mit Fans, das mache ich gerne. Aber es ist jetzt auch nicht so, dass man hier nicht ungestört Essen gehen könnte.
Wie war eigentlich die erste Reaktion bei Alex und Daniel Dujshebaev, Angel Fernandez und Julen Aguinagalde, als Sie das erste Mal die Kabine betreten haben?
Man kennt und schätzt sich. In der Regel fällt so etwas verhalten-fröhlich aus. Aber man ist schon ein Stück weit reserviert und braucht Zeit, sich aneinander zu gewöhnen. Mit den Spaniern ist es trotzdem etwas leichter, weil sie offenherziger sind - gerade Julen ist ein sehr lustiger Typ. Die Teamchemie ist hier sehr, sehr gut. Ich habe mich von der ersten Minute an wohl gefühlt.
Natürlich zielte die Frage ein wenig auf das EM-Finale 2016 ab, das schon wieder vier Jahre her ist. Welche Erinnerungen haben Sie noch heute speziell an das Finale gegen Spanien?
Einige Szenen sind einem noch im Kopf. Nicht zuletzt, weil man die Bilder immer wieder gezeigt bekommt. Das ist natürlich sehr besonders, wenn du zu deinem ersten Turnier fährst und derart souverän das Finale gewinnst. Erinnerungen an den EM-Sieg fühlen sich nach wie vor fantastisch an, wenn gleich das den Hunger nur steigert, sowas so schnell wie möglich zu wiederholen.
Kurz vor dem EM-Sieg ist Ende Dezember 2015 Ihr vorzeitiger Wechsel nach Kiel bekannt geworden. War das vielleicht auch eine zusätzliche Motivation, in Polen allen zeigen zu wollen, dass in den nächsten Jahren auf höchstem Niveau mit Ihnen zu rechnen ist?
Absolut. Das war natürlich eine Motivation, obwohl ich mir da noch keine große Gedanken darüber gemacht habe. Für mich war es das erste Turnier und ich wollte einfach insgesamt zeigen, dass ich in die Nationalmannschaft gehöre und dort bleiben möchte.
Mit der Goldmedaille um den Hals sind Sie anschließend von Termin zu Termin geeilt: Hat sich für Sie im Februar 2016 in Ihrem alltäglichen Leben etwas grundlegend verändert?
Eigentlich nicht. Einzig wenn ich online mit Leuten Videospiele zocke, kommt von den Leuten die Frage nach dem Namen. 'Bist du wirklich der Andreas Wolff?' Da ist dann so eine grundsätzliche Idee da, wer man ist. Aber ich würde nicht davon sprechen, dass es ein lebensveränderndes Ereignis gewesen wäre.
Im zweiten Teil des großen kicker-Interviews lesen Sie am Dienstag, wodurch Neu-Bundestrainer Alfred Gislason der Nationalmannschaft helfen kann, wie Wolffs Traum-Vorstellung vom Ende der aktiven Karriere aussieht und was ihn in gewisser Weise mit Manuel Neuer verbindet.
Interview: Maximilian Schmidt