16.12.2024, 08:48
Norwegen feiert "La Decima"
Das Finalwochenende der EHF EURO 2024 war ein Handballfest der Superlative und wohl die letzte Sport-Großveranstaltung dieser Dimension in der Wiener Stadthalle. Jeweils 8.800 Fans, die meisten aus Norwegen und Ungarn, verwandelten die Arena am Freitag und Sonntag in einen Hexenkessel. Das skandinavische Finale war zum krönenden Abschluss ein Spiel aus einer anderen Welt.
Es hat ein bisschen gedauert, auch aufgrund des frühen Ausscheidens von Österreich, bis die gemeinsam mit der Schweiz und Ungarn veranstaltete EM gezündet hat. Doch mit den Semifinalspielen sowie dem kleinen und großen Finale landete ein Handball-Raumschiff aus einer anderen Dimension in Wien. Die Krönung war am Sonntagabend das Endspiel, in dem sich die Norwegerinnen gegen Dänemark den zehnten EM-Titel holten.
Nachdem sich die skandinavischen Gigantinnen am Freitag in der erstmals bei dieser EHF EURO mit fast 9.000 Zuschauern vollen Stadthalle gegen die Französinnen und Ungarinnen durchgesetzt hatten, war die Bühne für das Traumfinale bereitet. Der ebenfalls ausverkaufte Finaltag begann schon am Nachmittag enorm spektakulär, als sich die von tausenden fanatischen Anhängern angefeuerten Ungarinnen im Spiel um EM-Bronze hauchdünn gegen Weltmeister Frankreich durchsetzten (25:24).
Danach ging es für die in in der Heimat als Superstars gefeierten Norwegerinnen um "La Decima", den zehnten Triumph bei der insgesamt 16. EM-Endrunde. Und der Olympiasieger blieb seinen ebenfalls in Hundertschaften mitgereisten Anhängern und Anhängerinnen nichts schuldig. Angeführt von der überragenden Welthandballerin Henny Reistad gewann Norwegen das in der zweiten Spielhälfte ungleiche Schwesternduell mit 31:23.
Gegen 20 Uhr streckten die Europameisterinnen den Goldenen Teller in die Höhe - unter dem Jubel ihrer ebenso begeisterungsfähigen wie fachkundigen Fans. Diese waren, ganz der norwegischen Sportkultur entsprechend, selbstverständlich bereits am Nachmittag beim kleinen Finale vollzählig in der Halle gesessen. Die Popularität der EM-Finalistinnen in ihren handballverrückten Heimatländern zu beschreiben, fällt nicht so leicht - zumal Frauen-Handball in Österreich nach wie vor ein Schattendasein fristet.
Ein Instagram-Reel mit einem spektakulären Treffer der norwegischen Flügelspielerin Camilla Herrem gegen die Niederlande wurde beispielsweise über den offiziellen EHF-Channel mehr als 32 Millionen Mal angesehen. Die EM-Spiele der Norwegerinnen erreichten zu Hause einen TV-Marktanteil von über 50 Prozent. Im Schnitt verfolgte rund eine Million von insgesamt 5,5 Millionen Norwegern und Norwegerinnen die Partien ihrer Mannschaft.
Rund zwei Drittel der etwa 120.000 Handballspielenden in Norwegen sind Frauen. Die Nationalspielerinnen sind nationale Sportgrößen, die jedes Kind kennt. Im Rahmen einer Europameisterschaft kassierte man die bislang letzte Niederlage vor zwei Jahren in der Hauptrunde gegen Dänemark. Elf Spiele hält die Siegesserie seither an. Zum dritten Mal in Folge nahmen die Norwegerinnen den EURO-Teller mit in den hohen Norden.
Die am Ende deutlich unterlegenen Däninnen spielen seit Jahrzehnten in der Weltspitze mit. Dennoch wäre es in Wien der erste große Titel seit Olympia 2004 gewesen. In Dänemark, das knapp 6 Millionen Einwohner hat, geht die Zahl der aktiven Handballer und Handballerinnen in Richtung 200.000. Wenn die Nationalmannschaften um große Titel spielen, egal ob Männer oder Frauen, sind die Straßen leergefegt - bis zu zwei Millionen Menschen schauen live im TV zu.
Zu Hause in Dänemark hatten auch die EM-Hauptrundenspiele der Frauen-Nationalmannschaft in Wien bis zu eine Million Handball-Fans live im TV gesehen, was einen Marktanteil von etwa 60 Prozent bedeutet. Einen solchen Status wird eine Frauen-Sportart in Österreich wohl niemals erreichen - nicht einmal Skifahren. Umso bitterer, dass sich die österreichische Nationalmannschaft schon nach der EM-Vorrunde in Innsbruck hatte verabschieden müssen - zwei Wochen vor dem Finale.
Harald Hofstetter