19.06.2023, 10:25
Onkel und Neffe kämpfen gemeinsam um den U-21-Titel
Co-Gastgeber Deutschland zählt bei der am Dienstag beginnenden U-21-Handball-WM zu den Mitfavoriten. Ein besonderes Turnier wird es für DHB-Spielmacher Nils Lichtlein (20), der auf den direkten Rat von Onkel Carsten Lichtlein (42) zurückgreifen kann.
Es ist ein lockeres Gespräch, in dem sich noch vor Beginn darauf geeinigt wird, auf das obligatorische Siezen zu verzichten. Die Konstellation ist dagegen eine sehr besondere: Da der Rekordspieler der Handball-Bundesliga und Weltmeister von 2007, dort einer der deutschen Hoffnungsträger im "Jahrzehnt des Handballs". Carsten Lichtlein gehört bei dieser U-21-WM als Torwarttrainer zum Team von Chefcoach Martin Heuberger, der sich von Carstens Neffe Nils in der Spielmacherrolle "einiges" verspricht.
kicker: Man kann mittlerweile an Stunden abzählen, wann die Heim-WM endlich beginnt. Die Voraussetzungen bei euch sind recht unterschiedlich: Carsten hat praktisch schon alles gesehen, nimmt jetzt als Torwarttrainer eine passivere Rolle ein. Nils ist als Fixpunkt auf der Mitte eingeplant, hat aber wenig überraschend noch keine Heim-WM gespielt. Mit welchen Gefühlen blickt ihr dem Turnier entgegen?
Carsten: Du sagst es bereits - zwar passiv, aber trotzdem sitze ich auf der Bank. Auch von dort werden Emotionen und Leidenschaft entwickelt, nicht nur auf dem Spielfeld. Ich freue mich riesig auf dieses Turnier. Es ist immer etwas ganz Besonderes, ein Turnier in seinem Heimatland zu spielen. Ich durfte es 2007 ja einmal miterleben. Das war außergewöhnlich. Am Anfang wird wahrscheinlich noch nicht jeder von der U-21-WM gehört haben, aber ich denke, umso erfolgreicher wir sind, umso mehr bekommt man das Feedback von außen. Das haben die Jungs auch verdient - was sie in Nationalmannschaft und Bundesliga leisten, ist schlicht außergewöhnlich.
Nils: Bei mir ist es pure Vorfreude. Ich war zwei Jahre leider bei keinem Turnier der Nationalmannschaft dabei. Natürlich haben wir eine lange Saison hinter uns, aber es ist ein einmaliges Erlebnis, jetzt noch vor heimischer Kulisse.
Nils, das Thema mit der heimischen Kulisse wird bei dir ja nochmal potenziert. Mit dem Sehnsuchtsort Max-Schmeling-Halle in Berlin, wo die Finalrunde stattfindet.
Nils: Das stimmt. Ich trage in Berlin meine Heimspiele mit den Füchsen aus, das wäre natürlich nochmal was ganz Besonderes, wenn wir so weit kommen. Auch weil Familie und Freunde sicherlich mit vor Ort wären. Wir hoffen, dass wir es bis dorthin schaffen.
Carsten, du wurdest 2007 mit Deutschland im eigenen Land Weltmeister. Martin Heuberger sagte mir im Vorfeld, dass das Turnier von damals in der Vorbereitung durchaus eine Rolle spielt. Erwartungshaltung und Ablenkung für die Spieler waren Stichwörter. Welche Chancen aber auch Risiken birgt so ein Heim-Turnier?
Carsten: Ich habe es vorhin angedeutet - je weiter du kommst, desto größer wird der Hype. Es besteht das Risiko, dass die Ablenkung so groß wird, dass man sich nicht mehr auf das Wesentliche konzentriert. Aber es kann auch das Gegenteil eintreten, dass man gepusht wird, auf einer Welle der Begeisterung getragen wird - wie es 2007 der Fall war. Wir haben in der Vorrunde gegen Polen verloren, uns dann aber von Spiel zu Spiel gesteigert. Dann hat man gemerkt, wie die Zuschauer einen beeinflussen können. Der Höhepunkt war das Finale in Köln mit über 20.000 Zuschauern. Das mitzuerleben, war einzigartig. Wir versuchen, die Junioren so gut es geht darauf vorzubereiten - und wollen die Max-Schmeling-Halle, wenn wir denn die Finalrunde erreichen, zum Brodeln bringen.
Wie nimmst du die Erwartungshaltung kurz vor dem Turnier bei dir persönlich, vielleicht aber auch innerhalb der Mannschaft wahr?
Nils: Wir haben dieses Jahr gegen die Top-Nationen gespielt und alles gewonnen. Das wollen wir am liebsten so beibehalten bei der Heim-WM.
Welche Erinnerungen hast du eigentlich an den WM-Triumph von 2007? Du warst sehr jung. Hast du noch Bilder vor Augen oder waren das Momente, die du später mal nachgearbeitet hast?
Nils: Ich habe das Gefühl, dass das in meiner Erinnerung ein wenig verschmilzt. Ich kenne nur noch die Finalbilder, zu der Vorrunde kann ich nichts sagen. Aber die Jubelbilder und der Film "Projekt Gold" sind mir sehr wohl präsent.
Wie kann man sich den Austausch zwischen euch beiden vorstellen? Wie hat sich das über die Jahre entwickelt?
Carsten: Nils hat sich zwischen Fußball und Handball entscheiden müssen. Wir kommen aus einer handballverrückten Familie. Seine Mutter, also meine Schwester, und auch sein Opa haben schon Handball gespielt. Jeder verfolgt den Werdegang des anderen. Er hat mich verfolgt, als er ein kleiner Junge war. Nach meiner aktiven Karriere verfolge ich jetzt Nils sehr genau. Wenn Fragen sind, tauscht man sich aus - auch regelmäßig per WhatsApp.
Martin Heuberger hat mir in unserem Gespräch gesagt, dass er angetan ist von Nils' Entwicklung und hat ein paar Qualitäten aufgezählt. Wie siehst du, Carsten, seine Entwicklung und was unterscheidet Nils womöglich von anderen?
Carsten: Sein Spielverständnis ist sensationell ausgeprägt. Ich kann gut verstehen, wenn Martin sagt, dass Nils auf Rechtsaußen verschenkt ist. Er hat dieses Know-how im Handball, das es braucht, um ein ganz Großer zu werden. Ich habe ihn bei der U-21-Nationalmannschaft jetzt schon ein paar Spiele erlebt, die Kombination aus seinem Eins-gegen-eins und dem Auge für die Mitspieler unterscheidet ihn von anderen.
Wo siehst du dich in deiner Entwicklung, Nils?
Nils: Hier in der Nationalmannschaft fühle ich mich sehr wohl, auf der Mitte kann ich meine Mitspieler gut in Szene setzen. Mittlerweile habe ich auch den Drang zum Tor wiedergefunden. Vor über einem Jahr hatte ich eine schwerere Bänderverletzung, danach habe ich im Verein ein wenig gebraucht, um wieder reinzukommen. Jetzt bin ich auf einem guten Weg und hoffe, dass ich der Mannschaft helfen kann.
2011 hat zuletzt eine deutsche U 21 den WM-Titel erringen können. Die heutige Mannschaft gilt als nochmal ein Stück talentierter, einige sind feste Größen in der Bundesliga. Was macht die aktuelle deutsche U 21 besonders stark, Nils?
Nils: Die Breite an sehr, sehr guten Spielern. Alle bei uns spielen Bundesliga oder 2. Liga und sind da auch wirklich Teil des Teams. Zum Beispiel haben Renars Uscins und Justus Fischer bei den Recken sowie David Späth bei den Löwen nachgewiesen, dass sie das Zeug für die Bundesliga haben. So kannst du praktisch alle Positionen durchgehen.
Carsten, du hast die Entwicklung der Torhüter fest im Blick. David Späth hat den Rhein-Neckar Löwen den Pokal beschert, Lasse Ludwig bei den Füchsen auch in der Bundesliga für Furore gesorgt. Was zeichnet David und Lasse deiner Meinung nach aus und wo unterscheiden sie sich?
Carsten: Sie unterscheiden sich schon mal von der Körpergröße (lacht). Aber auch im Torwartspiel werden Unterschiede deutlich: Lasse ist zwar nicht so groß, aber sehr schnell - und er hat tolle Reflexe. David nimmt mit seiner Größe sehr viel vom Tor weg, mit seiner Spannweite macht es das im Eins-gegen-eins-Verhalten leichter als für Lasse. Beide haben dieses Jahr in der Bundesliga, wenn sie die Chance bekamen, super Leistungen gebracht. Wenn man nicht regelmäßig spielt, dann aber von der Bank kommend performet, zeugt das von Qualität. Die beiden sollen sich hier bei der Nationalmannschaft gegenseitig pushen und dann auch ihr Können zeigen, wenn sie mal von der Bank kommen.
Nils, mit 1,83 Metern zählst du zu den kleineren Rückraumspielern der Bundesliga, stehst aber auch für eine neue Generation und Spielweise, die dein Vereinskollege Mathias Gidsel international entscheidend mitgeprägt hat. Was konntest du dir von ihm womöglich schon in dessen erstem Jahr abschauen?
Nils: Die Frage ist eher: Was nicht? Bei jedem Training lernt man gefühlt etwas Neues mit ihm. Er hat ein unfassbar gutes Eins-gegen-eins-Verhalten - sowohl zur Hand als auch gegen die Hand. Sehr besonders ist sein Timing, wann er ein Eins-gegen-eins ansetzt. Damit erwischt er drei von vier Abwehrspielern immer auf dem falschen Fuß. Da versuche ich mir jedes Mal etwas abzugucken.
Mal auf der Mitte, mal im rechten Rückraum: Welche Position liegt dir deiner Meinung nach besser und warum?
Nils: Das ist schwer zu sagen. So wie Handball aktuell gespielt wird, ist es praktisch egal, auf welcher Position du stehst. Dementsprechend liegt mir beides. Es ist aber schon so, wenn ich dann mal auf der Halbposition stehe und einen Rechtshänder auf der Mitte habe, muss ich mir weniger Gedanken machen, was ich spiele, und kann mich mehr auf mein Spiel und meinen Torinstinkt konzentrieren.
Mit Renars Uscins habt ihr einen Spieler dabei, der jüngst auch bei der A-Nationalmannschaft schon für Furore gesorgt hat. Traut ihr ihm zu, schon auf den Zug für die A-EM im kommenden Januar aufzuspringen?
Carsten: Renars hat in seinem ersten Länderspiel mit fünf Toren gegen Schweden einen guten Einstand gehabt. Den Rest muss Alfred entscheiden, er sieht ihn dann regelmäßig im Training. Wenn er bei den nächsten Lehrgängen dabei ist, wird es darauf ankommen, wie gut er sich ins Team und das Spielsystem von Alfred einfindet. Irgendwann wird auch ein Generationswechsel im rechten Rückraum stattfinden, auch Verletzungen sind nicht ausgeschlossen. Ein Erfolg mit der U 21 wäre für das Selbstvertrauen von Renars - und aller anderen - sicher Gold wert.
Eine große Rolle an den Erfolgen der U-Mannschaften wird Martin Heuberger nachgesagt. Was macht ihn als Trainer besonders, Nils?
Nils: Er findet immer die richtigen Mittel, außerdem analysieren wir die Gegner im Vorfeld immer sehr genau und können sie deswegen zum Teil regelrecht zerlegen. Er hat zudem das gewisse Händchen, wann er wen bringt - mit Erfolg offensichtlich.
Carsten, du hast Martin schon in vielen Rollen erlebt, als Co-Trainer und Cheftrainer der A-Mannschaft, jetzt als Trainerkollegen bei der U 21. Wie erlebst du ihn?
Carsten: Er schafft es immer wieder, die Mannschaft als Einheit auf die Platte zu bekommen. Das ist, glaube ich, sehr wichtig im heutigen Handball - dass nicht nur Einzelspieler herausstechen, sondern das Team. Das ist Martins große Stärke, der darüber hinaus taktisch sehr gut ist und Emotionen auf der Bank vorlebt.
Zum Abschluss: Eurosport hat sich die Übertragungsrechte an der WM gesichert. Nils, was bedeutet euch das als Team, wenn man weiß, dass eine deutlich breitere Masse das Turnier verfolgen wird?
Nils: Das ist eine Riesenmöglichkeit für unseren Sport, unseren Verband und auch für uns, sich auf einer Bühne zu präsentieren, die wir mit einer U-Nationalmannschaft noch nicht hatten. Es fällt mir am Ende trotzdem schwer, Zahlen von beispielsweise 200.000 oder 300.000 TV-Zuschauern zu realisieren. In der Halle hat man das direkte Feedback.
Interview: Maximilian Schmidt