25.01.2023, 11:48
Jüngere Vergangenheit spricht Bände
Die deutsche Nationalmannschaft trifft im Viertelfinale der Handball-WM auf Frankreich. Die jüngere Vergangenheit lässt fast nur eine Prognose zu: ein Krimi wartet.
Eines fällt gleich auf beim Blick auf den siebten deutschen Gegner bei dieser Weltmeisterschaft. Kein einziger Profi aus dem französischen Kader läuft für einen deutschen Verein auf. Selbst Deutschlands Auftaktgegner Katar hatte da "mehr" zu bieten. Vor ein paar Jahren hätte es das noch nicht gegeben, dass kein Franzose in der Bundesliga sein Geld verdient.
Und natürlich haben einige französische WM-Fahrer auch Bundesliga-Vergangenheit. Kentin Mahé (früher beim HSV und in Flensburg), Romain Lagarde (Rhein-Neckar Löwen), Nikola Karabatic (THW Kiel) sowie Trainer Guillaume Gille (Hamburg) können ihrem Torhüter Vincent Gerard berichten.
Dieser wechselt im kommenden Sommer als Nachfolger von Niklas Landin zum Rekordmeister nach Kiel. Nach dem gewonnenen "Hauptrundenfinale" gegen das zuvor ebenfalls verlustpunktfreie Spanien erklärte Gerard in Bezug auf die potenziellen Viertelfinal-Gegner Deutschland und Norwegen: "Wir haben da keine Vorliebe. Es sind zwei großartige Gegner."
Auch wenn Frankreich nicht mehr der Titelmagnet vergangener Tage ist: Die aktuelle Mannschaft kennt und kann Erfolg. Elf Spieler aus dem WM-Kader waren beispielsweise 2021 Olympiasieger - und peilen im nächsten Sommer bei den "Heim-Spielen" in Paris die Titelverteidigung an.
Der deutsche Nachbar hat das Glück, dass er aus einem schier unerschöpflichen Brunnen Talente hochzieht. Brechen Routiniers weg, kommen Weltstars von morgen nach. Die spielen nicht erst in Minden, sondern sind zum Teil längst bei europäischen Top-Klubs unter Vertrag - und kennen den Handball auf allerhöchstem Niveau.
"In jeder kleinen Region gibt es Strukturen, um die jungen Talente früh begleiten und ihr Potenzial auch ausschöpfen zu können", erklärte Frankreichs Nationaltrainer Guillaume Gille dazu im kicker-Interview vor der deutschen Heim-WM im Januar 2019. Während andere verbissen um den Nachwuchs kämpfen, kann Gille einfach Spieler wie Dika Mem, Ludovic Fabregas, Melvyn Richardson (alle FC Barcelona) oder Dylan Nahi (Kielce) aus dem Hut zaubern.
Am Konkurrenzkampf mit der älteren Generation wachsen diese Talente und schlüpfen alsbald selbst in die Rollen als Leistungsträger. Das geht in Frankreich schon eine ganze Weile so. Zwischen 2009 und 2017 gewannen "Les Experts" alleine drei WM- und zwei EM-Titel. Seit fünf Jahre herrscht aber - abgesehen von Olympia - Dürre, was die Franzosen zusätzlich anstacheln dürfte.
Zum bereits dritten Mal hat Frankreich seine ersten sechs WM-Spiele allesamt gewonnen und würde am Mittwochabend (20.30 Uhr, LIVE! bei kicker) gerne nachlegen. "Die Franzosen haben schon das ein oder andere Viertelfinale mehr gespielt als unser Team gerade", merkte DHB-Kapitän Johannes Golla am Montag zu Recht an. "Les Experts" hätten "seit Jahren diese individuelle Qualität auf höchstem Niveau", da könne "wirklich jeder den Unterschied machen".
Schwächen sucht man im französischen Spiel vergeblich. Wucht aus dem Rückraum, Tempo über die Außen, Durchsetzungskraft im Eins-gegen-eins, Brecher am Kreis. Frankreich hat eine der athletischsten Mannschaften der Welt, Barcelonas Linkshänder Mem gehört sicherlich zu den elegantesten und gefährlichsten Handballern überhaupt.
"Spieler wie Dika Mem können alles im Alleingang zerlegen. Wir müssen gucken, dass den jungen Spielern während des Spiels nicht der Kopf irgendwo steht", erklärte DHB-Keeper Andreas Wolff im Vorfeld. Da überrascht es nicht, dass sich Bundestrainer Alfred Gislason lieber mit Vize-Europameister Spanien duelliert hätte.
Doch auch die Franzosen und ihre Spielweise kennt die DHB-Auswahl nur zu gut. Wolff beispielsweise trifft mit Rückraum-Waffe Nedim Remili, Kreisläufer Nicolas Tournat und Linksaußen Nahi auf gleich drei Vereinskollegen aus Kielce. Vier Spieler bei "Les Experts" haben bei diesem Turnier bereits 20 oder mehr Treffer erzielt - angeführt von Spielmacher Mahé (26 Tore).
Im Aufgebot der Franzosen findet sich auch der ewige Nikola Karabatic wieder. Der 38-Jährige jagt bei der Endrunde seinen fünften WM-Titel - das gelang bisher nur seinem ehemaligen Teamkollegen Thierry Omeyer. Wie eng die französischen Erfolge mit Karabatics Namen verknüpft sind, zeigt folgende Statistik: Zehn Goldmedaillen durfte sich der Rückraumspieler von Paris Saint-Germain bei Weltmeisterschaften, Europameisterschaften und Olympia bislang um den Hals hängen - insgesamt holte Frankreich in seiner Geschichte derer zwölf. Bei den ersten Spielen führte er das Team noch als Kapitän aufs Feld, jüngst sah er zweimal nur zu.
Karabatic kennt durch seine enorme Erfahrung aber auch die unglaublich engen Duelle mit der DHB-Auswahl. Die letzten Aufeinandertreffen deuten auf einen deutsch-französischen Krimi am Mittwochabend hin: Keines der letzten fünf Duelle endete mit mehr als einem Tor Differenz.
2016 verlor Deutschland das Halbfinale bei Olympia unglücklich mit 28:29, es folgte bei der Heim-WM 2019 in der Vorrunde ein 25:25 sowie nur zwölf Tage später das verlorene Spiel um Platz drei gegen "Les Experts" (25:26). Auf dem Weg zu Olympia-Gold reichte es für Frankreich im Juli 2021 in Tokio gerade so für ein 30:29, das letzte Duell in Wetzlar in Vorbereitung auf die EM gewann Deutschland mit 35:34.
74-mal trafen Frankreich und Deutschland insgesamt in Länderspielen aufeinander - bei 37 deutschen Siegen, 29 französischen und acht Remis. Letzteres wird es am Mittwoch definitiv nicht geben. Stattdessen will die DHB-Auswahl ihre positive Bilanz ausbauen: sechs der letzten neun Spiele zwischen beiden Teams fanden im Rahmen von Weltmeisterschaften statt. Deutschland gewann dreimal, verlor zweimal und spielte einmal unentschieden.
Maximilian Schmidt