23.04.2022, 08:15
Wiegert und Mertens sprechen im kicker
Der SC Magdeburg mischt die Handball-Bundesliga gewaltig auf. Entscheidenden Anteil am Erfolg des Tabellenführers hat Trainer Bennet Wiegert (39).
Wenn es unbedingt einen Vergleich zur deutschen Volkssportart Nummer eins bräuchte, wäre der mit Jürgen Klopps viel zitiertem Heavy-Metal-Fußball wohl am passendsten. Auch der SC Magdeburg stresst seine Gegner, gönnt ihnen keine Verschnaufpause. Erste Welle, zweite Welle, schnelle Mitte - der Bundesliga-Spitzenreiter setzt auf Dauerdruck und Belagerungstaktik. Dieser erlegen sind in der laufenden Saison schon Titelverteidiger THW Kiel, Vizemeister Flensburg-Handewitt und im frühzeitig entschiedenen Derby die Füchse Berlin.
Bennet Wiegert ist Baumeister des Erfolgs, der gebürtige Magdeburger gewann als Spieler mit dem SCM im Jahr 2001 die deutsche Meisterschaft und ein Jahr später die Champions League. Seit 2015 ist er Cheftrainer in seiner Heimatstadt, aktuell steht die Ernte der harten Arbeit an. Der Triumph in der European League war im vergangenen Mai ein erster Fingerzeig.
Spätestens seit dem Gewinn der Klubweltmeisterschaft Anfang Oktober in Saudi-Arabien ist klar: Die Magdeburger, die mit Aalborg und Champions-League-Sieger FC Barcelona internationale Schwergewichte eindrucksvoll ausbremsten, sind bereit für mehr. Die Handball-Hochburg in Sachsen-Anhalt lechzt nach der ersten nationalen Meisterschaft seit zwei Jahrzehnten.
"Auch wenn es von Woche zu Woche schwieriger wird, diese Fragen von uns wegzuschieben, werde ich nicht müde zu betonen, dass wir noch nicht mal die Hälfte der Saison hinter uns haben", blockte Wiegert im Gespräch mit dem kicker Anfang Dezember ab, "da fällt es mir schwer, bereits jetzt von einer eventuellen Meisterschaft zu sprechen." Vor dem Final Four hat der SCM, der im zweiten Halbfinale auf den HC Erlangen trifft, nun sechs Punkte Vorsprung auf den THW Kiel. Alles andere als der erste Meistertitel seit 2001 wäre eine große Überraschung.
Eines steht fest: Die Erfolgswelle, auf der der SCM surft, ist genauestens berechnet. "Das, was wir jetzt sehen, ist das Ergebnis jahrelanger Arbeit und Entwicklung", betont Wiegert. Der bedingungslose Tempohandball stellt die Gegner vor schier unlösbare Aufgaben. Im Positionsangriff verliert der Klubweltmeister allerdings nicht an Qualität. Das macht es gerade so schwer, gegen die Magdeburger zu bestehen. Schnelle Passfolgen, Abräumen über die Außen, Lösungen in der Kleingruppe, das Zusammenspiel mit dem Kreis - der unangefochtene Tabellenführer hat immer ein Mittel parat. Und braucht es doch mal die Brechstange, gibt es mit Michael Damgaard (31) jemanden, der aus aussichtslos scheinenden Situationen Schlagwürfe ins gegnerische Tor knallt.
Der Kader des SCM ist ungemein ausgeglichen, lebt nicht von wenigen Ausnahmekönnern. Füchse-Boss Bob Hanning erkannte in seiner neuesten kicker-Kolumne neidlos an: "Dem SCM muss man das Kompliment machen, dass sie ohne jeden Zweifel die beste Kaderplanung der letzten Jahre hatten."
Parallelen zur Meistermannschaft sieht Wiegert aber keine: "Mein Team mit dem von 2001 auf eine Stufe zu stellen, wäre falsch. Damals hatten wir auf jeder Position absolute Weltklassespieler, so weit sind wir noch nicht." Zumindest auf dem besten Wege dorthin befindet sich aber Omar Ingi Magnusson (24). Bundestrainer Alfred Gislason bezeichnete den Linkshänder, mit nur 1,86 Meter verhältnismäßig klein für einen rechten Rückraumspieler, früh in der Saison als "ganz klar besten Spieler" der Liga. Befangenheit bei der Beurteilung seines isländischen Landsmannes braucht Gislason niemand vorzuwerfen.
Magnusson, Bundesliga-Torschützenkönig der Vorsaison mit 274 Treffern, besticht durch ein hervorragendes Eins-gegen-eins, geht das Tempospiel gnadenlos mit, ist aus dem Rückraum torgefährlich und darüber hinaus einer der besten Vorbereiter der Liga. Seinen Vertrag verlängerte der SCM Ende Juni vorzeitig bis 2026.
Der Star ist das System, das viele beim SCM aktuell glänzen lässt. Auf Inspirationsquellen angesprochen sagt Wiegert: "Dass Alfred Gislason (SCM-Trainer von 1999 bis 2006, d. Red.) eine große Rolle gespielt hat mit seiner Akribie, ist kein Geheimnis. Er war damals seiner Zeit voraus und richtig innovativ. Aber den jetzigen Spielstil habe ich grundsätzlich über die Jahre allein entwickelt, da ich selbst etwas Innovatives entwickeln wollte." Das ist Wiegert fraglos gelungen.
Einer, der diese Art von Handball aufgesaugt und zu seinem Durchbruch genutzt hat, ist Lukas Mertens. Mit konstant starken Leistungen empfahl sich der Linksaußen für die deutsche Nationalmannschaft, in der er mit 25 Jahren am 5. November gegen Portugal debütierte. "Lukas hat einen enormen Sprung gemacht", lobt Wiegert, der diese Position früher selbst bekleidete: "Nach der schweren Knieverletzung von Matze Musche hat er seine neue Rolle super angenommen und ist hineingewachsen. Seit einem Jahr spielt der Junge quasi immer 60 Minuten durch."
European-League-Sieger, Klubweltmeister, Neu-Nationalspieler - Mertens erlebte das Jahr 2021 auf der Überholspur. "In so kurzer Zeit zwei Titel zu holen und das erste Spiel für die A-Nationalmannschaft zu geben, ist sehr emotional und bedeutet mir viel", gestand der gebürtige Wilhelmshavener, an dem die belastungsintensiven Monate nach eigener Aussage aber auch nagten.
Ansätze des Magdeburger Erfolgsmodells im DHB-Team zu implementieren, hält Mertens nicht für ausgeschlossen: "Der Tempohandball wäre auf jeden Fall übertragbar, denn wir haben in der Nationalmannschaft genau die Spieler, die das können. Einem Timo Kastening würde es sicherlich auch gefallen, wenn viele Angriffe über die erste oder zweite Welle abgeschlossen werden." Dass dies aber "viel Training und automatisierte Abläufe" brauche, ist auch Mertens bewusst.
Beinahe täglich arbeitet Mertens mit Wiegert daran, dass es nicht bei einigen wenigen Länderspielen bleibt. "Er hat sehr hohe Ansprüche an uns und will jeden Tag 100 Prozent aus uns herauskitzeln", so Mertens über seinen Förderer: "Auf der anderen Seite hat er aber auch den Blick für das Leben außerhalb des Sports und für viele Sachen Verständnis. Das zeichnet für mich einen guten Trainer aus." Und erinnert ja irgendwie auch an Spieleraussagen über einen gewissen Jürgen Klopp.
Maximilian Schmidt