20.04.2022, 12:48
Mittelfranken reisen als krasser Außenseiter nach Hamburg
Als krasser Außenseiter reist der HC Erlangen erstmals zum Final Four nach Hamburg. Die Mittelfranken waren in dieser Saison bislang eine große Wundertüte, in der eine herausragende Figur praktisch alles entscheidet.
Es gibt einen simplen Grund, warum mittlerweile schwedische Flaggen bei Erlanger Heimspielen in Nürnberg im Publikum auftauchen. Simon Jeppsson, im Sommer 2020 von der SG Flensburg-Handewitt nach Mittelfranken gewechselt, ist Dreh- und Angelpunkt des HCE-Spiels.
Es gibt praktisch nichts, was der 2,03-Meter-Hüne im linken Rückraum nicht kann. Anspiele an den Kreis, Tore aus 13 Metern, Treffer als letzte Chance aus einem Freiwurf, abgezockte Siebenmeter, Pässe auf die Außen - als Bodenpass auf links oder diagonal auf rechts. Jeppsson ist Erlangens Entscheidungsspieler, in fast jedem Angriff gibt er den Takt vor.
Das jüngste Heimspiel gegen den Bergischen HC (30:23) war der beste Beweis dafür. Wenn es bei Jeppsson (drittbester HPI-Wert der Bundesliga) läuft, ist auch der HCE schwer zu stoppen. Kein Wunder, dass die Franken den Vertrag mit dem 26-Jährigen im vergangenen September vorzeitig bis 2024 verlängerten.
Doch wie viel Druck im letzten Spiel vor dem Final Four auf dem Kessel war, zeigen Aussagen von Kapitän Nikolai Link und Antonio Metzner. "Ich habe zum ersten Mal seit Ewigkeiten vor einem Spiel wieder richtig schlecht geschlafen", gestand Link auf der Vereinswebsite: "Ich war so aufgeregt, als wäre es mein erstes Handballspiel." Linkshänder Metzner sprach nach der Partie von "Felsbrocken, die uns von den Schultern fielen".
Die Erlanger laufen in der Liga ihren eigenen Ansprüchen schließlich weit hinterher. Konstant war in der Spielzeit 2021/22 meist nur die Inkonstanz. Beeindruckenden Siegen folgten niederschmetternde Niederlagen, es blieb ein ständiges Auf und Ab - oftmals auch innerhalb der 60 Minuten. Die Wechselhaftigkeit kostete am Ende Cheftrainer Michael Haaß den Job.
Zu Beginn des Jahres 2022 wurde der Weltmeister von 2007 vor die Tür gesetzt und Sportdirektor Raul Alonso zum Chefcoach befördert. "Raul bringt neue Elemente ein", sagt Erlangens Nationalspieler Christoph Steinert, dessen Einsatz in Hamburg sich wohl erst kurzfristig entscheidet, im HBL-Gespräch: "Er ist ein sehr kreativ arbeitender Trainer. Wir müssen variabler werden, das ist Teil der angestrebten Weiterentwicklung."
An die Seite von Alonso stellte der Verein Anfang März einen ehemaligen Weltstar: Die Personalie Olafur Stefansson, viermaliger Champions-League-Sieger, schloss die Neustrukturierung des Trainerteams ab.
Doch auch mit Alonso und Stefansson an der Seitenlinie stellte sich nicht sofort Erfolg ein. Mit 19:33 Punkten nach 26 absolvierten Spielen ist der HCE nur Tabellen-13. Der DHB-Pokal soll die Saison retten - und dort überzeugten die Mittelfranken zum Teil wirklich. In der zweiten Runde wurde zu Hause die SG Flensburg-Handewitt (29:26) rausgeworfen, im Achtelfinale bemerkenswert deutlich die HSG Wetzlar (31:19).
Im Viertelfinale gegen Zweitliga-Spitzenreiter Gummersbach zeigten die Erlanger ihre Wankelmütigkeit, fielen aber nicht (29:27). "Wir sind alle überwältigt, welchen Charakter die Mannschaft gezeigt hat und wie sie ein fast verlorenes Spiel noch zurückgeholt hat", frohlockte Erlangens Aufsichtsratsvorsitzender Carsten Bissel und fügte an: "Wir können noch gar nicht glauben, dass unser HC Erlangen im Final Four in Hamburg vertreten ist. Ein Traum wurde wahr."
Die Erlanger sind der letzte Debütant, der bei einem Pokal-Final-Four in Hamburg an den Start gehen wird - das beliebte Event zieht nach Köln um. Und trotz des Halbfinals am Samstag (16.10 Uhr, LIVE! bei kicker) gegen Meisterschaftsfavorit Magdeburg ist der HCE nicht chancenlos. Das letzte Liga-Heimspiel gegen den SCM gewann Erlangen, den bis dato jüngsten Vergleich in Magdeburg verlor Erlangen Ende Oktober 2021 denkbar knapp (27:28).
Mit Blick auf das Final Four im vergangenen Jahr, als Underdog TBV Lemgo Lippe alle überraschte und sensationell den Pokal holte, sagte Ex-Magdeburger Steinert: "Das Beispiel Lemgo zeigt, was möglich ist - und, dass nichts unmöglich ist."
Maximilian Schmidt