06.04.2020, 07:57
Weltmeister von 2007 im Gespräch mit dem kicker, Teil 1
Abschlussstark, nervenstark, meinungsstark: Noch immer zählt Michael "Mimi" Kraus (36) zu den beliebtesten Handballern in Deutschland. Der Weltmeister von 2007 nimmt im ersten Teil des kicker-Interviews kein Blatt vor den Mund - und zeigt unter anderem auf, warum trotz der nachvollziehbaren Entscheidung für Alfred Gislason auch Martin Schwalb ein idealer Bundestrainer wäre.
Kraus hat die Bundesliga in den letzten zwei Jahrzehnten mitgeprägt. Mit dem HSV Hamburg feierte der wurfgewaltige Spielmacher den Champions-League-Titel (2013) und die deutsche Meisterschaft (2011). Mit Frisch Auf Göppingen sollte er später auch noch den EHF-Pokal (2016) holen. Speziell aber mit frechen Auftritten in der Nationalmannschaft spielte sich Kraus nachhaltig in die deutschen Herzen. Beim WM-Titel 2007 war der 128-malige deutsche Nationalspieler (401 Tore) eine prägende Figur und schaffte es sogar ins Allstar-Team des Turniers. 13 Jahre später hat sich für den dreifachen Familienvater einiges geändert - seine klare, direkte Art hat sich Kraus aber behalten.
Die wichtigste Frage vorneweg: Wie geht es Ihrer Familie und Ihnen gesundheitlich?
Uns geht's allen gut. Wir verbringen viel Zeit zu Hause. Der Einzige, der einkaufen geht, bin ich. Ich halte mich da an die Vorgaben. Wir geben unser Bestes und versuchen auch, hier regional die Leute zu unterstützen.
Das ist schön zu hören, dann direkt zum Sport: Aus Bietigheimer Sicht hätte es einen besseren Zeitpunkt für die Zwangspause geben können. Einerseits seien da die zwölf Siege aus den letzten 14 Ligaspielen erwähnt - darunter auch gegen Coburg und Essen -, andererseits gab es im bis dato letzten Pflichtspiel eine 28:34-Niederlage beim HSV Handball. Wie sehen Sie das?
Die Zwangspause kam für uns sicherlich ungelegen, weil wir echt gut drauf waren. Das Spiel beim HSV war einfach suboptimal. Da wussten wir aber schon auch, was unsere Fehler waren und zu dem Zeitpunkt war es vielleicht gar nicht schlecht, mal einen Schuss vor den Bug zu kriegen. Nichtsdestotrotz waren wir alle überzeugt, dass wir das darauffolgende Spiel wieder gewinnen werden. Die Niederlage hat uns nicht demotiviert - im Gegenteil. Wir waren eigentlich heiß darauf, schnell wieder aufs Spielfeld zurückzukehren. Aber was soll man sagen: Das ist jetzt eigentlich alles hinfällig, weil ich nicht glaube, dass die Saison fortgesetzt wird.
Von 2002 an haben Sie 17 Jahre durchgehend nur in der Bundesliga gespielt: Wo liegen die größten Unterschiede zwischen erster und zweiter Liga?
Da gibt es einige. In der Bundesliga ist alles, auch von den taktischen Konzepten her, schon nochmal einen Tick weiter. Auch die Abstimmung zwischen Torhüter und Abwehr funktioniert in der Bundesliga ein Stück weit besser. Bei einem Schlagwurf siehst du in der zweiten Liga echt doof aus, wenn die Torhüter gar nicht in ihr Eck gehen, sondern einfach stehen bleiben. Eine große Herausforderung für mich persönlich: In der zweiten Liga ist es schon so, dass du als Bundesliga-Spieler einen Stempel auf dir hast. Die Gegenspieler wollen sich beweisen. Man muss sich bewusst sein, dass es da auf die Mütze gibt. Ein Thema sind auch die Schiedsrichter. Ich habe zwei, drei Paare erlebt, die mehrfach überragend gepfiffen haben. Es gab aber auch Negativ-Überraschungen, die auf so ein Spiel teils extreme Auswirkungen haben. In der zweiten Liga wird grundsätzlich schon auf ganz, ganz hohem Niveau gespielt - verlieren kannst du eigentlich überall. Bei uns war anfangs das Problem, dass wir auf dem Papier eine der stärksten Mannschaften der Liga haben, den Abstieg aber nicht verkraftet hatten.
Sie haben in dieser Saison 21 Ligaspiele absolviert und stehen bei 72 Toren sowie 50 Assists. Wie zufrieden sind Sie mit Ihrer persönlichen Leistung?
Die ersten zehn Spiele habe ich nahezu kaum mitgewirkt oder zum Teil verletzt gespielt, was in der zweiten Liga natürlich eine ganz schlechte Idee ist. Ab Spieltag 10 kann man aber glaube ich schon mit meiner Leistung zufrieden sein, obwohl ich jetzt eher als Spielgestalter denn als Torschütze agiere. Ich glaube damit sind die Verantwortlichen mittlerweile auch sehr zufrieden.
Wenn man ein paar Monate zurückspult: Nach dem Bundesliga-Abstieg gab es bei Ihnen auch die Überlegung, erstmals ins Ausland zu gehen. Wieso haben Sie sich am Ende doch für Bietigheim entschieden?
Es war eigentlich schon sehr, sehr konkret mit dem Ausland.
Wohin hätte es denn gehen sollen?
Es wäre nach Frankreich gegangen, da waren wir schon sehr weit. Allerdings kam dann auch der Tod meines Vaters dazwischen. Es war so ein Punkt, wo ich mit dem Karriereende geliebäugelt habe. Meine Mutter hier alleine in der Region zu lassen, war für mich ein No-Go. Ich habe dann erstmal lange gewartet, was ich überhaupt mache. Dann habe ich mich mit den Verantwortlichen in Bietigheim zusammengesetzt und gesagt, dass ich so eigentlich auch nicht aufhören möchte. Ich habe dann entschieden, dass ich noch eine Saison, eventuell noch eine zweite dranhänge - wenn es mit der Familie vereinbar ist.
Springen wir zur deutschen Nationalmannschaft, mit der Sie im Februar 2007 als Weltmeister ein Stück Handball-Geschichte geschrieben haben. Vor der Heim-WM 2019 stand Ihre Rückkehr ins DHB-Team im Raum. Sind Sie rückblickend enttäuscht oder verärgert, dass Sie am Ende nicht dabei sein durften?
Ich war jetzt nicht der Bundestrainer, aber die Signale waren schon da, dass ich nominiert worden wäre, wenn ich mir nicht im Dezember die Hand gebrochen hätte. Damit habe ich dem Bundestrainer damals ja auch die Entscheidung abgenommen. Ich war aber sicher, dass ich der Mannschaft hätte helfen können. Es war allerdings schnell zu verkraften, weil es durch die Verletzung nicht mehr in meiner Macht stand. Da hätte sich aber natürlich ein schöner Kreis geschlossen.
Damals soll es erst gar keinen persönlichen Kontakt zu Christian Prokop gegeben haben. Gab es den bis heute?
Wir hatten kurz Nachrichten ausgetauscht. Aber das war nur, dass ich ihm viel Glück für das Turnier gewünscht habe. Und dass man sich danach mal zusammentelefoniert, das kam aber bis heute nicht zustande. Auch weil das Turnier dann natürlich immens viel Druck für ihn war und im Endeffekt auch nicht erfolgreich abgeschlossen wurde. Im Endeffekt kann man schon sagen, dass Christian und ich nie Kontakt hatten.
Prokop ist das Stichwort: Wie bewerten Sie die doch überraschende Entlassung des nun ehemaligen Bundestrainers und vor allem die Art und Weise?
Für mich war es nicht überraschend, das habe ich immer wieder betont. Auch bei den Garantien, die während des Turniers ausgesprochen wurden, war mir das klar. Was bleibt der Verbandsführung übrig, als irgendwelche Lippenbekenntnisse rauszuhauen, dass ein bisschen Ruhe einkehrt. Unfair war für mich, dass Christian schon während des Turniers angezählt war. Allerdings gab es da natürlich die eine oder andere Aussage von den Verantwortlichen, die nicht so clever war. Das hatte ich in der Vergangenheit bei Turnieren nie, dass es da - trotz der Chance aufs Halbfinale - Diskussionen um den Trainer gab. Allerdings muss ich auch sagen, dass ich die Diskussionen verstanden habe. Das erste Turnier von Christian war natürlich nichts (Platz 9 bei der EM 2018, d. Red.). Man hat sich zusammengerauft, aber ob man sich von diesem ersten Eindruck erholt, das weiß ich nicht.
War da schon das Standing in der Mannschaft angekratzt?
Ja. Und sich davon zu erholen, ist extrem schwer. Deswegen war es für mich auch keine Überraschung, dass man sich von ihm getrennt hat. Man hat schon gesehen, dass sich die Mannschaft entwickelt hat. Aber ich hatte nie das Gefühl, dass er fest im Sattel sitzt. Für meine Meinung diesbezüglich habe ich über die Jahre viel Kritik kassiert. Aber ich bin keiner, der mit seiner Meinung hinterm Berg hält. Ich bin immer ein Fan von konstruktiver Kritik und wenn ich sage, dass mir die Autorität vom Trainer gefehlt hat, dann ist das auch nichts Schlimmes. Wenn man die Chance hat, Bundestrainer zu werden, dann muss man die ergreifen.
Stichwort Autorität: Mit Alfred Gislason ist eine absolute Instanz neuer Bundestrainer. War das die richtige Entscheidung mit Blick auf die Zukunft?
Alfred ist, gerade was Autorität angeht, der richtige Kandidat. Er hat ein super Standing. Und vielleicht ist es ja das, was die Mannschaft braucht. Wenn man Alfred kriegen kann, dann muss man in der aktuellen Lage auch zuschlagen. Ich persönlich hätte auch einen Martin Schwalb gut gefunden - weil ich ihn kenne. Als Vereinstrainer hat er seine Stärken und Schwächen, aber als Bundestrainer, glaube ich, wäre Martin eine richtig gute Wahl gewesen. Denn er ist Motivator par excellence, er hat auch einige Länderspiele, kann sich artikulieren und ist eine Autoritätsperson. Und was nicht unwichtig ist bei der Nationalmannschaft: Er kann mit Medien umgehen. Das sind alles so Attribute, die einem Bundestrainer nicht fehlen dürfen. Und da hat es mich schon gewundert, dass sein Name nie gefallen ist. Aber mit der Nominierung von Gislason ist auf jeden Fall einiges richtiggemacht worden.
Ein Genuss für Handball-Fans war während des Turniers der "Kretzsche-Talk" mit Stefan Kretzschmar und verschiedenen Gesprächspartnern. Bei mir ist besonders eine Folge haften geblieben, als Sie und Fabian Wiede zu Gast waren. Offen, ehrlich und ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, wurden viele kritische Themen angesprochen. Vergisst man in der Atmosphäre die Kameras oder wie kommt das?
Bei aller Kritik darf man eines nicht vergessen. Wir wollen alle eine erfolgreiche Nationalmannschaft haben. Nur dann werden auch die Bundesliga und die Zuschauerzahlen weiter wachsen. Wir haben neue Idole, neue Typen. Wenn man nach dem Motto vorprescht 'Alles ist scheiße', ist das völliger Quatsch. Da wird mir oft zu wenig differenziert. Der Verband hat sich unter der neuen Führung professionalisiert, Mark Schober (DHB-Vorstandschef, d.Red.) macht zum Beispiel einen sensationellen Job. Auch Bob Hanning, ob man ihn mag oder nicht, hat dem Verband zu mehr Professionalität verholfen. Ich habe bei Kretzsche aber schon versucht, auch ehrliche Aussagen herauszukitzeln.
Ich erinnere mich vor allem daran, dass Wiede und Sie beispielsweise im entscheidenden Kroatien-Spiel in der Schlussphase Spieler auf der Platte vermissten, die Verantwortung übernehmen wollten. Ihnen beiden dagegen liegt das im Blut. Ist das gerade ein grundsätzliches Problem im DHB-Team, dass es von dieser Sorte zu wenige Spieler gibt?
Ja, aber solche Spieler wachsen nicht auf den Bäumen. Fabi Wiede, der verletzt bei Kretzsche auf der Couch saß, ist so ein Spieler. Er weiß aber auch, dass es nicht immer gutgehen kann. Du brauchst grundsätzlich Spieler, die Bock haben auf diese Entscheidungen, die keine Angst haben. Ich glaube nach wie vor, dass es in der Nationalmannschaft auch ohne Fabi Wiede Typen gibt, die Bock auf sowas hätten. Ein Julius Kühn hat da sicherlich Bock auf solche Entscheidungen, auch wenn seine Stärken vor allem im Wurf liegen. Auch ein Kai Häfner kann solche Situationen lösen.
Es gibt in Handball-Deutschland aber auch eine Strömung, die sich mehr verdiente Nationalspieler beim DHB wünscht. Ein hypothetisches Beispiel: Markus Baur als Lenker und Christian Schwarzer als emotionaler Leader bilden das deutsche Trainergespann, Stefan Kretzschmar übernimmt eine Führungsposition beim DHB. Wie klingt das für Sie?
Ich weiß nicht, ob man das bei der aktuellen Führung an der DHB-Spitze so haben möchte. Ich glaube, da möchte man auch ein neues Image kreieren, neue Wege gehen. Aber an Fachkompetenz mangelt es in Deutschland nicht. Solche Spieler einzubauen, ist definitiv sinnvoll - Kroatien macht es erfolgreich vor. Manchmal habe ich aber den Eindruck, dass es im deutschen Handball verschiedene Lager gibt. Und die arbeiten gegeneinander. Ein Sportlicher Leiter Stefan Kretzschmar oder ein Sportlicher Leiter Markus Baur würde mir aber natürlich auch gut gefallen.
Eine letzte Frage zum DHB-Team: Eine der größten Baustellen der letzten Jahre ist Ihre Spielmacher-Position. Im "Kretzsche-Talk" haben Sie mit Juri Knorr einen erst 19-jährigen, hochinteressanten Spielmacher aus Minden als Kandidaten genannt. Ist er gerade die vielleicht größte Hoffnung auf der Mitte?
Für mich schon. Ich finde, der Junge kann werfen, hat Spielwitz und ist athletisch. Das gefällt mir. Ich habe mich gewundert, dass er so überhaupt nicht auf dem Zettel steht. Mit 19 bist du eigentlich auch kein Talent mehr. In Frankreich oder Kroatien bist du mit 19 ein fertiger Spieler. Und ich weiß nicht, wieso bei uns dann immer vom Talent geredet wird. Natürlich fehlt dir die Erfahrung, aber im Endeffekt geht es ums Handball spielen. Und wenn er dann bei einem Turnier dabei ist, hat er danach zehn Länderspiele und seine Erfahrung gemacht.
Im zweiten Teil des großen kicker-Interviews lesen Sie, was der Handball laut Kraus noch vom Fußball lernen kann, wie es nach der Karriere weitergeht und warum Stefan Kretzschmar ein "Handball-Influencer" par excellence ist.
Interview: Maximilian Schmidt