11.04.2024, 13:00
"Auf Ballhöhe bleiben" für blinde und seheingeschränkte Fans
Mit der Live-Audiodeskription sollen die Spiele der 1. Handball-Bundesliga auch für blinde und seheingeschränkte Fans erlebbar gemacht werden. Für den "Tag der Vielfalt" - präsentiert von der IG Handball - hat sich Blindenreporter Lucas Schmelz bei einem Einsatz in Wetzlar über die Schulter schauen lassen...
Fünf Minuten vor dem Anpfiff gehen Lucas Schmelz und sein Kollege Maxim Brehme live auf Sendung. Die beiden Blindenreporter von T_OHR sitzen nebeneinander auf der Pressetribüne in der Buderus-Arena in Wetzlar. Sie werden die Partie der Mittelhessen gegen die Rhein-Neckar Löwen an diesem Sonntagabend im April für die Live-Audiodeskription der LIQUI MOLY HBL begleiten.
Seit dieser Saison wird mindestens eine Live-Audiodeskription pro Spieltag aus der deutschen Beletage angeboten. "Viele Menschen wissen noch gar nicht, dass es diesen Service gibt", bedauert Schmelz. Dabei ist das Ziel des Projektes, den Handball gerade für alle Fans erlebbar zu machen - über den Service der Live-Audiodeskription eben auch für blinde und seheingeschränkte Menschen (hier geht es zum Webplayer).
"Eine Live-Audiodeskription ist eine sehr detailgetreue Beschreibung des Spielgeschehens", hat Schmelz kurz vor der Sendung erklärt. "Wir versuchen, auf Ballhöhe zu bleiben und das Spielgeschehen mit so vielen Bildern zu beschreiben, dass blinde und sehbehinderte Menschen sich vorstellen können, was auf dem Spielfeld passiert."
Daher klingt die Audio-Reportage von Schmelz und seinen Kollegen von T_OHR anders als eine Radioübertragung oder auch der normale Dyn-Kommentar. "Kirkelökke wieder auf Scheffvert, der geht an den Kreis, spielt zu Kirkelökke zurück, der verlangsamt jetzt", beschreibt Brehme den ersten Angriff der Löwen und ergänzt: "Sie machen sich auch alle noch einmal Harz an die Hände und klatschen ab."
Eine Mischung aus Spielbeschreibung und Atmosphäre: Die Live-Audiodeskription soll das Geschehen mit und ohne Ball vermitteln. "Die Detailtreue ist größer als im Radio. Wir müssen daher einfach ein gutes Gespür haben, was gerade in der Halle passiert und priorisieren, was wichtig ist", beschreibt Schmelz die Aufgabe. "In der Optimalvorstellung ist es so, dass die Zuhörenden der Live-Audiodeskription vor Ort sind, damit sie die Atmosphäre aufsaugen können und über die Reportage wissen, warum die anderen Menschen im Publikum gerade klatschen."
So soll die "möglichst barrierefreie Teilhabe an Freizeitevents" ermöglicht werden, wie Schmelz es formuliert. In dieser Saison unterstützt die Deutschen Kreditbank AG (DKB), früherer Namenssponsor der Bundesliga, den Service; die Vereine müssen lediglich die Plätze für die ein bis zwei Kommentatoren stellen. "Wir wollen in dieser Saison mindestens eine Live-Audiodeskription an jedem Standort der Handball-Bundesliga durchführen, damit die Leute vor Ort erfahren, was Blindenreportage überhaupt ist", sagt Schmelz.
Denn während im Fußball bereits alle Spiele der 1. und 2. Bundesliga flächendeckend mit Live-Audiodeskription übertragen werden, macht die LIQUI MOLY HBL in dieser Saison ihre ersten Gehversuche durch das Projekt mit der DKB. Für viele der 18 Vereine - und deren Fans - ist die Blindenreportage durch das T_OHR-Team und die Kollegen eine Premiere.
Anders sieht es nur beim SC DHfK Leipzig aus: Dort werden die Heimspiele bereits seit 2017 mit einer Live-Audiodeskription begleitet - und ergänzend zur Übertragung der HBL, die über einen Webplayer oder vor Ort über die App raydio auf dem eigenen Smartphone aufgerufen werden muss, können blinde und seheingeschränkte Fans in Leipzig die Reportage in der Halle auch über ein Audioguide-System mit Kopfhörern empfangen.
Der Verein war und ist damit ein Vorreiter im Handball. "Es ist eine Herzensangelegenheit", betont Manager Karsten Günther und freut sich, dass es inzwischen Schule macht: "Ich bin happy, dass wir damit einen Impuls setzen konnten, den die Liga aufgenommen hat und ich bin unseren Partnern dankbar, die das möglich gemacht haben." Etabliert hat die Live-Audiodeskription in Leipzig Peter Lomb, der mit Lomb-Audio der einzig andere Anbieter neben T_OHR in der HBL ist.
Blinde und sehbehinderte Zuschauer in Leipzig erhalten bei jedem Spiel ermäßigten Eintritt, eine Begleitperson ist inklusive. Die Plätze sind bei Lomb, sodass ein enger Austausch zwischen Kommentator und seinen Zuhörer:innen möglich ist. Auswärtsspiele des SC DHfK begleitet er mit einer Audiodeskription über das Fanradio, das sich unter anderem die seheingeschränkten Nutzer parallel zum Fernsehbild anschalten können, um dem Spielgeschehen auf dem Bildschirm zu folgen.
Auch beim REWE Final4 am Wochenende wird Lomb mit drei Kollegen im Einsatz sein. Mit der Live-Audiodeskription hat er seine Passion gefunden und inzwischen zehn Jahre Erfahrung gesammelt. "Unser Job ist es, dass sich blinde und seheingeschränkte Menschen ein Bild vom Spiel machen können", umreißt er kurz und knapp.
Aus Leipzig zurück nach Wetzlar: Zwischen den Gastgebern und den Löwen ist das Spiel an diesem Abend über weite Strecken offen, aber von Fehlern geprägt. "David Späth spielt ihn [den Ball] schnell raus auf More, ein Stück zu lang, aber er hat ihn noch … und spielt ihn komplett zurück in die eigene Hälfte", beschreibt Brehme, der an diesem Tag für den Ballbesitz der Löwen zuständig ist.
Hat die HSG Wetzlar den Ball, übernimmt Schmelz das Mikrofon. Das sei eine "Ballbesitzreportage", hat Schmelz im Vorfeld erklärt. "So können die Zuschauer schon durch den Stimmwechsel verstehen, wer gerade im Ballbesitz ist." Die schnellen Ball- und Angriffswechsel beim Handball machen die Live-Audiodeskription schwieriger als beim Fußball. Man müsse "möglichst viele Informationen in einer möglichst kurzen Zeit rüberbringen", sagt auch Schmelz.
Der Blindenreporter ist seit zwei Jahren bei T_OHR und gemeinsam mit Brehme Projektleiter für die Umsetzung der Live-Audiodeskription in der Handball-Bundesliga. Im Januar waren sie bei der Handball-Europameisterschaft im Einsatz. Die Live-Audiodeskription sei "ein Nischenfeld", sagt Schmelz. "Es gibt vielleicht drei bis vier Anbieter in Deutschland."
Er selbst stieg nach seinem Studium im sozialen Bereich bei T_OHR ein, hinter dem inzwischen als Träger die AWO Südwest steht. "Ich hatte ein riesiges Interesse für Sport und Sportberichterstattung, wollte aber gleichzeitig sozial etwas bewegen", begründet Schmelz seine Intention. Eine zertifizierte Ausbildung- oder Studiengang zum Blindenreporter gibt es nicht, viel ist Learning-by-Doing und Erfahrung.
"Wir müssen das Spiel - bei aller Emotionalität - möglichst neutral beschreiben und dürfen uns nicht in Anekdoten, Phrasen und Floskeln verlieren", erklärt Schmelz die Anforderungen, die er an sich und seine Kollege stellt. "Die gradlinige Beschreibung des Spielgeschehens muss im Vordergrund stehen."
Doch zugleich dürfe man die Übertragung nicht überfrachten. "Wir wollen so genau wie möglich am Spiel dranbleiben, aber müssen dabei aufpassen, dass wir uns nicht in Details verheddern, um die Dynamik des Spiels und die Emotionen noch zu vermitteln", führt Schmelz aus. "Ein bisschen Sprachwitz darf daher schon einmal dabei sein, auch das Gefühl für den Moment und die Empathie für die Zuhörer:innen sind ganz, ganz wichtig."
Daher ist auch nicht jedes Fanradio automatisch als Live-Audiodeskription vermarktbar, denn es fehlen oft Details, die den Spielverlauf wirklich vorstellbar machen. Eine Kombination sei jedoch durchaus möglich. "Viele Fußball-Bundesligisten haben ihr Fanradio während Corona mit einer Live-Audiodeskiption verbunden", merkt Schmelz an. "Der Detailgrad ist höher und auch sehende Menschen haben etwas davon, weil sie sich das Spielgeschehen bildlich vorstellen können." In Leipzig hat die Live-Audiodeskription das normale Fanradio wie beschrieben bereits ersetzt.
Mit dem diesjährigen Projekt, an jedem Spieltag mindestens ein Spiel per Live-Audiodeskription zu übertragen, hat die Handball-Bundesliga jedoch schon einmal einen Schritt nach vorne gemacht. Potenzial gibt es allerdings noch. Eine Positionierung des Blindenreporters direkt bei den Nutzer:innen, Fortbildung der Blindenreporter oder eine breite Bewerbung der App raydio bzw. des generellen Services wären neben der dauerhaften Implementierung an jedem Standort mögliche Ansatzpunkte. Vorbild könnte neben dem SC DHfK auch die Kölner Haie im Eishockey sein.
"Viele Vereine sehen die Audiodeskription leider noch nicht als Chance für sich", bedauert auch Michael Dennis. Der Goalballspieler der Füchse Berlin hat eine Sehbehinderung und ist beruflich beim Behinderten- und Rehabilitations-Sportverband Berlin tätig. Er sieht eine gute Live-Audiodeskription als generelle Chance für den Verein: "Wenn die Vereine ein gutes Produkt anbieten, ist das Angebot nicht nur für blinde Fans in der Halle interessant, sondern auch für alle Fans - egal, ob sehend oder nicht -, die nicht in der Halle sein können. Je detaillierter der Spielbeschreibung ist, desto mehr haben alle davon."
Die IG Handball e.V. präsentiert am heutigen "Tag der Vielfalt" eine bunte Mischung von Personen und Wegen, die den Handball abseits des ergebnisorientierten Spitzenhandballs mit Leben füllen.
"Als IG Handball wollen wir der Sportart Handball eine Stimme geben - auch und gerade den Protagonist:innen und Themen, die anders als unsere National- und Bundesligaspieler nicht wöchentlich in der Öffentlichkeit stehen", sagt Christoph Döring, Vorsitzender der IG Handball. "Denn so wichtig die deutschen Nationalmannschaften als Zugpferde sind und so stolz wir auf die stärkste Liga der Welt und ihre Vereine sind: Der Handball hat so viel mehr Facetten, denn er ist eine Sportart für alle Menschen."
jun