11.04.2024, 10:00
Füchse Berlin stehen in Finalrunde der Champions League
Im Handball träumen die Füchse Berlin aktuell noch von der Champions League, doch im Goalball ist der Hauptstadtklub schon einen Schritt weiter: Sowohl die Männer als auch die Frauen haben die Finalrunde erreicht. Der frühere Nationalspieler Michael Dennis gibt für den "Tag der Vielfalt" - präsentiert von der IG Handball - einen Einblick in die beliebte Ballsportart für Menschen mit Seheinschränkung, die viele Parallelen zum Handball aufweist.
Im März rückte der Goalball kurzzeitig in den Blickpunkt: "Unterstützt unsere Goalballer", posteten die (Bundesligahandballer) der Füchse Berlin auf Instagram und verwiesen auf die anstehende Champions-League-Qualifikation in der Hauptstadt. 1.748 Likes sammelte der Beitrag - und damit doppelt so viele, wie das Profil der Goalball Bundesliga überhaupt Follower hat (854).
"Wir sind, da bin ich ehrlich, ein brutaler Randsport", grinst Michael Dennis. Der früherer deutsche Nationalspieler und zweimalige Paralympics-Teilnehmer ist Leistungsträger im Team der Berliner Goalballer und freut sich über die Schützenhilfe des großen Bruders Handball: "Vielen Dank an die Handballprofis, dass sie uns mit Publicity über ihre Kanäle geholfen haben - wir hatten ein tolles Event in Berlin."
Gekrönt wurde das Qualifikationsturnier im März mit dem Ticket für die Finalrunde der Königsklasse. "Mega cool", nennt Dennis das. "Wir hatten eigentlich nur eine einzige Chance - und die haben wir genutzt", sagt der 31-Jährige, der als Most Valuable Player (MVP) ausgezeichnet wurde. "Wir waren als Gastgeber gesetzt, das war das erste Mal Glück. Dann haben wir die leichtere der beiden Gruppen bekommen und sind dann mit der besseren Tordifferenz als Gruppenerster weitergekommen."
So ersparten sich die Füchse den Umweg über die Play Offs, "die wir wahrscheinlich nicht überstanden hätten", wie Dennis eingesteht. Nun geht es jedoch gemeinsam mit der Frauen-Mannschaft des Vereins im Sommer (27. Juni bis 01. Juli 2024) ins belgische Blankenberge, wo die Finalrunden der EGCA (European Goalball Club Association) - Champions League ausgespielt werden.
Bundesliga, Champions League, Welt- und Europameisterschaft: Die Wettbewerbe im Goalball klingen für jeden Handballfan vertraut. Die Bezeichnungen sind jedoch längst nicht die einzelnen Parallelen zwischen dem Handball und der durchaus handballähnlichen Sportart für Menschen mit Seheinschränkung.
"Es muss ein Tor geworfen werden", zählt Dennis mit Betonung auf "geworfen" auf. "Ein Tor wird vom Schiedsrichter durch einen Doppelpfiff gegeben. Es gibt eine Ein- oder Zwei-Linien-Abwehr, die offensiver oder defensiver ausgerichtet ist. Und sowohl bei unserem Penalty als auch beim Siebenmeter tritt ein Torwart gegen einen Werfer an." Im normalen Spiel wird 3:3 gespielt.
Zudem seien die Spieler "sowohl Angreifer als auch Abwehrspieler und du haust in beiden Sportarten deinen ganzen Körper rein", führt der 31-Jährige aus und ergänzt mit einem Schmunzeln: "Der extreme Unterschied: Es gibt keinen Körperkontakt - und wir haben nicht nur einen Torwart, der sich mit dem Ball abwerfen lässt, sondern drei Bekloppte, die gleichzeitig im Tor stehen, weil das Tor über die ganze Spielfeldbreite geht."
Damit ist das Tor im Goalball neun Meter (!) breit (und 1,30 Meter hoch). Das 18 Meter lange Spielfeld ist in drei Zonen eingeteilt: Eine neutrale Zone in der Mitte trennt die beiden Mannschaftszonen vor dem eigenen Tor voneinander. Es gibt tastbaren Begrenzungslinien, durch die Glocken im Inneren können die blinden und seheingeschränkten Spieler:innen den Ball hören.
Da Goalball in Deutschland eine inklusive Sportart ist, dürfen auch sehende Menschen mitmachen. Alle Spieler:innen tragen Dunkelbrillen, sodass für alle unabhängig von der Sehstärke gleiche Bedingungen herrschen. "Du musst lernen, auf die Bewegung der Gegner zu achten, auf die Schritte zu hören", sagt Dennis. "Ansonsten hörst du nur den Ball. Viele können den Ball aber so werfen, dass er zwischen dem ersten und zweiten Bodenkontakt nicht zu hören ist und dadurch haben wir brutal geringe Reaktionszeiten von Zehntelsekunden. Wir arbeiten also ganz viel mit Antizipation und Reflexen."
Damit die Spieler hören können, was der Gegner macht, sind auch die Zuschauer gefordert. "Während der Ballwechsel muss es leise sein, sobald der Ball im Aus ist, darf das Publikum lauter sein", sagt Dennis. Das klappt allerdings nicht immer, wie der 31-Jährige bei den Paralympics 2016 in Rio de Janeiro erlebte. "Es waren 12.000 Brasilianer in der Halle und die waren nicht ruhig zu kriegen", erinnert er sich. "In solchen Situationen zeigt sich, wer das bessere Nervenkostüm hat, einfach Goalball spielt und sich nicht ablenken lässt. Ich fand es geil, ich habe guten Goalball gespielt."
Damals erreichte Deutschland den sechsten Platz, bei den nächsten Spielen in Tokio wurde das Team um Dennis Neunter. Neben den zwei Teilnahmen an den Paralympics gehören der Gewinn der Europameisterschaft 2019 und die Vize-Weltmeisterschaft 2018 zu seinen größten Erfolgen. Dass Dennis überhaupt zum Goalball fand, war Zufall - und eine Folge der Handball-Weltmeisterschaft 2007 in Deutschland.
"Ich bin auf dem Dorf groß geworden, wo es einen Turnverein und einen Fußballverein gab", erzählt er. "Turnen war nicht mein Talent, daher bin ich zum Fußball gegangen und war 16 Jahre lang dabei." Ganz aufgehen konnte er in diesem Sport jedoch nie, "weil schlicht und einfach das Sehen gefehlt hat."
Nachdem Dennis aus seinem Dorf nach Marburg an die Blindenschule gegangen war, probierte er verschiedene Sportarten aus. "Blindenfußball war allerdings nichts für mich, sodass am Ende die Handball-WM 2007 in Deutschland prägend war. Danach habe ich mir gedacht: Hallensport kann ja auch cool sein - also habe ich Goalball ausprobiert, weil ich unbedingt weiter einen Teamsport machen wollte", erinnert er sich und ergänzt mit einem Schmunzeln: "Im Nachhinein muss ich sagen: Das war richtig entschieden."
Ebenso wie Dennis finden viele Goalballer den Weg in ihre Sportart über die Blindenschulen. Dort liegt aus Sicht des 31-Jährigen auch noch ein großes Potenzial für den Wachstum der Sportart. "Goalball wird in vielen Blindenschulen gespielt, die jedoch keinen Anschluss an einen Verein haben", berichtet er. "In Nordrhein-Westfalen gibt es beispielsweise elf Blindenschulen, aber nur einen Verein."
Entsprechend schwierig sei es, die Anzahl der aktiven Goalballer:innen zu erheben. Über 1.000 Goalballer plus eine hohe Dunkelziffer“ gäbe es in Deutschland, schätzt Dennis und betont. "Es werden immer mehr Mannschaften und immer Menschen, die es spielen." Inzwischen gibt es drei organisierte Ligen in Deutschland. "Die leistungssportliche Spitze läuft in der Bundesliga auf", beschreibt er. "Darunter ist es ein Spiel auf Breitensportniveau und es geht einfach darum, eine coole Sportart auszuüben."
Damit die Sportart in Deutschland weiter wachsen könne, braucht es jedoch vor allem eins: Manpower. Das Ehrenamt sei "ein Knackpunkt", weiß auch Dennis. "Wir brauchen für unsere Sportart viele engagierte Menschen, die anpacken wollen - nicht nur als Spieler, sondern als Betreuer oder Teammanager." Menschen, die sich in der Sportart nicht auskennen, würden leider oft vor einem Engagement zurückschrecken: "Dabei ist das Vorwissen für eine Unterstützung abseits des Feldes - zum Beispiel beim Organisieren von Auswärtsfahrten - egal."
Der Support abseits des Feldes ist im Goalball auch deshalb so wichtig, weil zu der Organisation, die auch im Handball anfällt, zusätzliche Herausforderungen kommen. "Auswärtsfahrten sind immer eine Challenge, denn während in jeder normalsehenden Handballmannschaft schon genug Spieler einen Führerschein und Auto haben, müssen wir immer genau planen, wie wir zu unserem Spiel hinkommen", beschreibt Dennis.
Hinzu kommt die fremde Umgebung. "Als wir in Marseille waren, ist die sehende Freundin eines Mitspielers mitgekommen. Ein Paar sehende Augen sind gerade im Ausland eine große Hilfe, auch wenn wir keine Berührungsangst haben und im Zweifelsfall einfach um eine Beschreibung oder Erklärung bitten", sagt Dennis. "Wir schmeißen unsere restlichen Seh-Fähigkeiten zusammen und irgendwann kennt man viele Hallen auch."
Aber auch im eigenen Trainingsalltag müssen die Goalballer immer wieder Hürden überwinden, die für (normal sehende) Handballer nicht auftreten. Dass Kinder und Jugendliche teilweise lange Fahrtwege zum Training haben, gibt es auch im Handball, aber beim Goalball "kommt die Angst der Eltern hinzu, ihr Kind quer durch die Stadt zum Training zu schicken", erklärt Dennis. "Da hängen Barrieren dran, an die normalsehende Menschen nicht denken. Ganz simpel: Kenne ich den Bahnhof, an dem ich umsteigen muss?" Auch den Weg von der Bahn zur Halle muss bewältigt werden. Das Füchse-Team trifft sich daher 20 bis 30 Minuten vor dem Training an der nächsten Bahnstation und geht zusammen.
Aktuell trainieren die Berliner zweimal in der Woche („Hallenzeiten in Berlin zu finden, ist schwierig.“). Bevor es jedoch zur Finalrunde der Champions League nach Belgien geht, steht der Ligaauftakt in Rostock an. Nach dem Abstieg aus der 1. Bundesliga kämpfen die Berliner um den Wiederaufstieg. "Wir wollen", betont Dennis, "unbedingt wieder hoch."
Die IG Handball e.V. präsentiert am heutigen "Tag der Vielfalt" eine bunte Mischung von Personen und Wegen, die den Handball abseits des ergebnisorientierten Spitzenhandballs mit Leben füllen.
"Als IG Handball wollen wir der Sportart Handball eine Stimme geben - auch und gerade den Protagonist:innen und Themen, die anders als unsere National- und Bundesligaspieler nicht wöchentlich in der Öffentlichkeit stehen", sagt Christoph Döring, Vorsitzender der IG Handball. "Denn so wichtig die deutschen Nationalmannschaften als Zugpferde sind und so stolz wir auf die stärkste Liga der Welt und ihre Vereine sind: Der Handball hat so viel mehr Facetten, denn er ist eine Sportart für alle Menschen."
jun