21.01.2023, 00:05
Oranje hat sich sportlich nicht für die WM qualifiziert
Deutschland steht nach vier Siegen aus vier Spielen bei der Handball-WM 2023 am Samstag vor einer Art Meisterprüfung. Gegner Niederlande lässt nicht nur beim Bundestrainer die Alarmglocken schrillen.
Ohne externe Hilfe hätte es das wegweisende WM-Duell zwischen den Niederlanden und Deutschland am zweiten Spieltag der Hauptrunde gar nicht gegeben. Erst eine Wildcard ebnete Oranje den Weg zur Endrunde, weil der deutsche Nachbar in den WM-Play-offs im Vergleich mit Portugal den Kürzeren gezogen hatte (61:65 in der Gesamtabrechnung). Kein Sonderfall: Dank einer solchen Wildcard durfte beispielsweise das eigentlich nicht qualifizierte Deutschland an der Handball-WM 2015 in Katar teilnehmen.
Für die Niederländer - und da gibt es einen Riesenunterschied zur DHB-Auswahl - ist es allerdings die erst zweite WM-Teilnahme überhaupt. Letztmals nahm Oranje im Jahre 1961 an einer Endrunde teil. Und traf dabei auch auf Deutschland. Endstand: 7:33. Speziell in den letzten Jahren hat sich bei Niederlande allerdings einiges getan. Im Eiltempo hat der Verband, dem nur knapp 50.000 Mitglieder angehören, den Abstand zur Weltspitze eingestampft.
Oranje gehört fraglos zu den spannendsten "Entwicklungsländern" des Welthandballs. Diesen Eindruck unterstrich der EM-Elfte des Vorjahres in Polen bislang eindrucksvoll: Argentinien wurde wie von Deutschland weggefegt (29:19), gleiches galt für Nordmazedonien (34:24). Im Gruppenfinale hatte Oranje die vermeintliche Übermacht Norwegen am Rande einer Niederlage (26:27). Zum Auftakt der Hauptrunde zog Niederlande gegen Katar den Kopf rechtzeitig aus der Schlinge (32:30).
Mit aktuell 4:2 Punkten und 87:76 Toren hat Oranje das Viertelfinale noch in der eigenen Hand. Ein Sieg über die deutsche Mannschaft wäre ein Meilenstein in der Entwicklung. An der "Vorbereitung" wird es nicht scheitern: Acht Profis im Aufgebot der Niederländer verdienen in Deutschland ihr Geld - fünf in der ersten, drei in der zweiten Liga.
"Viele Niederländer sind aus der Bundesliga bekannt, alles herausragende Spieler. Das wird eine harte Nuss für uns", prognostiziert Deutschlands Co-Trainer Erik Wudtke exklusiv für den kicker: "Im letzten Duell bei der EM 2020 sind wir schwer ins Spiel reingekommen, haben uns am Ende aber durchgesetzt. Spätestens da wurde klar, dass die Niederländer kein kleiner Gegner mehr sind. Und wer sich deren Spiele bei der EM 2022 anschaut, findet herausragende Ergebnisse. Das wird am Samstag ein sehr attraktives Spiel, ich kann jedem empfehlen, das anzugucken."
Drei Profis stechen aus dem Kollektiv heraus und sind ein Musterbeispiel für eine "neue" Art des Handballs: Dani Baijens (1,82 Meter) vom HSV Handball im linken Rückraum, Luc Steins (1,72 Meter) von Paris Saint-Germain auf der Mitte und Kay Smits (1,85 Meter) von Meister Magdeburg im rechten Rückraum. Das Trio setzt die gegnerischen Abwehrreihen durch ihr unglaubliches Tempo einem permanenten Stresstest aus.
kicker-Kolumnist Bob Hanning bezeichnete Oranje im Vorfeld als "Speedy Gonzales" und warnte: "Das wird eine andere Geschwindigkeit." Auch bei Bundestrainer Alfred Gislason ist der Respekt riesengroß. "Wir müssen extrem gut in der Abwehr stehen, weil sie meiner Meinung nach einen überragenden Angriff haben", erklärte der Isländer unmittelbar nach dem Kantersieg gegen Argentinien.
Seine Gedanken - wie auch die vieler Spieler - waren nach dem Hauptrunden-Auftakt sofort beim bislang sicherlich stärksten Gegner. Auf Deutschland wartet nach vier Siegen eine Art Meisterprüfung. Auch mit Blick auf Norwegen und ein mögliches Viertelfinale. Torhüter, Abwehr und Angriff kommen wohl erstmals richtig auf den Prüfstand. Verliert die DHB-Auswahl, steht die K.-o.-Runde plötzlich enorm auf der Kippe.
Besonderes Augenmerk gilt am Samstagabend Spielgestalter Steins, der nicht umsonst sein Geld in Paris verdient. DHB-Keeper Andreas Wolff sieht den wendigen Mittelmann "seit zwei Jahren auf absolutem Weltklasse-Niveau". Auch Gislason greift Steins in seiner Analyse heraus: "Wie er den Ball nach vorne treibt - unglaublich schnell und schwer zu verteidigen." Bereits 20 Assists und bemerkenswerte 19 Ballgewinne stehen in Steins' WM-Statistik.
Ein Schlüssel für den fünften deutschen Sieg in Polen wird definitiv das Rückzugsverhalten sein - und ob die gerade gegen die unerbittlichen Niederländer gefährlichen Spezialistenwechsel gelingen. In herausragender Verfassung präsentiert sich neben Steins nämlich auch Smits. Der Magdeburger Linkshänder, der wegen zu starker Konkurrenz im Verein im Sommer zur SG Flensburg-Handewitt wechseln wird, erzielte in vier Spielen bereits 32 WM-Tore. Alle seine elf Siebenmeter bei der Endrunde verwandelte er traumwandlerisch sicher.
Eine Schwachstelle ist auch im Tor nicht auszumachen: Bart Ravensbergen, beim Zweitliga-Sechsten HSG Nordhorn-Lingen unter Vertrag, sammelte bereits 51 Paraden bei einer Fangquote von 36 Prozent. "Die Mannschaft wurde ideal auf die Spielweise zusammengestellt", findet Wudtke: "In der Abwehr haben sie schnelle Beine, verteidigen mit viel Bewegung, provozieren Stürmerfouls, um so in ihr Umschaltspiel zu kommen."
Der DHB wähnt sich dennoch gut vorbereitet, wählte im Vorfeld der WM ganz bewusst Island als Testgegner aus - da diese Oranje extrem ähnlich seien. "Im Angriff erwarte ich viele Eins-gegen-eins-Situationen. All das ist uns bekannt aus den Island-Spielen", sagt Wudtke.
Der größte Star der Niederländer ist aber irgendwie auch der Trainer: Staffan Olsson hat im Handball schon alles gesehen, spielte unter anderem sieben Jahre für den THW Kiel und gewann mit Schwedens goldener Generation unter anderem zwei WM-, vier EM-Titel sowie dreimal Olympia-Silber.
Seit 2022 coacht er Oranje. "Er gibt seine unglaubliche internationale Erfahrung an die Niederlande weiter. Die Ergebnisse zeigen, dass das schon gefruchtet hat", findet Wudtke. Nicht nur ihm wäre es wohl recht, wenn es für den deutschen Nachbarn am Samstag bei gesammelten Erfahrungen bliebe.
Maximilian Schmidt