04.02.2024, 12:00
Handball-Geschichte - Heute vor 17 Jahren:
"Frühlingserwachen im Winter", hieß es für den deutschen Handball vor siebzehn Jahren. Die Weltmeisterschaft im eigenen Land hatte sich 2007 als Turnier der Superlative erwiesen und die Hoffnung auf eine Zeitenwende im deutschen Handball geweckt.
Die Handball-WM 2007 setzte auf vielen Ebenen neue Maßstäbe: Moderne Hallen, reibungslose Abläufe sowie die große Begeisterung der Fans in den Hallen und an den Fernsehern auf der einen Seite und der sportliche Erfolg auf der anderen: Unter der Regie von Bundestrainer Heiner Brand holte sich die deutschen Auswahl nach schleppendem Beginn, einem Halbfinal-Krimi gegen Frankreich und einem fulminanten 29:24 im Endspiel gegen Polen den Titel und wurde danach in Köln auf dem Rathaus gefeiert.
Als Deutschland zum dritten Mal Weltmeister wurde, fieberten 16,17 Millionen Zuschauer vor den Fernsehgeräten mit - eine Quote von 58,3 Prozent. Eine Handball-Rekordquote, die bis heute unübertroffen ist. Ebenfalls Bestwert war im Jahr 2007 die Zahl von 724.000 Zuschauern, die erst 2019 bei dem von Deutschland und Dänemark zusammen ausgerichteten Turnier mit 906.283 Zuschauen im Januar 2019 übertroffen werden konnte, bevor bei der Handball-EM 2024 in Deutschland dann die Millionen-Marke geknackt wurde.
Wo seine Goldmedaille von der Handball-WM 2007 geblieben ist, weiß Heiner Brand nicht genau. "Ich habe aber auch noch nicht speziell danach gesucht", sagt der Weltmeistertrainer vor einigen Jahren in einem Gespräch der Deutschen Presse-Agentur. An das "Wintermärchen" vor nunmehr sechzehn Jahren und den Hype um die deutsche Mannschaft kann sich Brand dagegen noch sehr gut erinnern.
"Es herrschte eine enorme Begeisterung, die man gar nicht übersehen konnte. Das war unglaublich für Handball-Verhältnisse. Jeder Titelgewinn hat eine enorme Bedeutung in dem Moment, wo man ihn erringt. Aber 2007 war schon etwas Besonderes, weil im Laufe der zweieinhalb Wochen eine Entwicklung stattfand, die man auch wahrgenommen hat", beschrieb Heiner Brand die damalige Euphorie im Land.
"Sie und Ihre Jungs haben Millionen Deutschen mit einer beispiellosen Hingabe und Leidenschaft große Freude bereitet", gratulierte Bundeskanzlerin Angela Merkel im Jahr 2007 dem Handball. "Ich freue mich besonders für meinen Kollegen Heiner Brand, der über viele Jahre erfolgreiche und kontinuierliche Arbeit geleistet hat. Das ist sicher der Höhepunkt seiner Trainerkarriere. Ich gönne ihm das von ganzem Herzen", erklärte der damalige Fußball-Bundestrainer Joachim Löw.
Fußball-Ehrenspielführer Uwe Seeler schloss sich wie zahlreiche weitere Gratulanten an: "Sensationell dieser Kampf bis zum Letzten. Ich verbeuge mich. Eine tolle Mannschaft, eine tolle Leistung. Mir hat besonders imponiert, wie die Spieler als Team gearbeitet und gewonnen haben."
Die 17-tägige Party startete allerdings verhalten. Orkan "Kyrill" fegte über Deutschland hinweg, im Auftaktspiel gegen Brasilien am 19. Januar 2007 in Berlin war die deutsche Offensive aber eher ein laues Lüftchen - auch weil es durch die Verletzung des zu früh verstorbenen Spielmachers Oleg Velyky direkt vor Turnierbeginn einen schweren Rückschlag gab.
Nach einem 12:10 zur Pause gab es am Ende ein 27:22, das in die Kategorie Pflichtsieg fiel. Beim 32:20 (17:11) gegen Argentinien kam das DHB-Team in Schwung, wurde im letzten Vorrundenspiel von Polen aber mit einem 25:27 (12:14) wieder ausgebremst - lediglich als Gruppenzweiter ging es in die Hauptrunde.
Im westfälischen Halle, wo bereits das zweite und dritte Vorrundenspiel bestritten wurde, folgte mit dem 35:29 (17:14) gegen Slowenien dann ein wichtiger Aufschlag.
"Die Vorrunde lief nicht so locker. Der Knackpunkt war das erste Hauptrundenspiel gegen Slowenien in Halle. Da hat die Mannschaft die Verkrampftheit abgelegt und zu einer Lockerheit gefunden, die im weiteren Turnierverlauf zu sehen war", erzählt Brand, der dabei unter anderem auf die Treffsicherheit von Torsten Jansen bauen konnte - der Außen hatte im Turnier eine Erfolgsquote von über neunzig Prozent.
Ein wichtiger Faktor war dabei auch Christian Schwarzer: Der Routinier hatte die ersten beiden Spiele als Experte des ZDF verfolgt, aufgrund der Verletzungssorgen wurde er nachnominiert und sorgte unter anderem mit einer Kabinenpredigt nach der Niederlage gegen Polen für einen wichtigen Schub. Kurios: Zunächst hatte Heiner Brand den Lemgoer ohne dessen Wissen offiziell nachgemeldet - und informierte erst danach den Betroffenen.
"Einen Schwarzer kann man in jede Mannschaft stecken", kommentierte der Bundestrainer damals knapp. "Ich kann mich nur zigmal bei Heiner Brand bedanken, dass ich das mitmachen durfte", erklärte der Kreisläufer unterdessen, der damals anfügte: "Über Teamgeist, Power und Kraft plus dem Spaß am Handball haben wir uns hinten raus enorm gesteigert. Und wie die Mannschaft aus der Lektion gegen Polen in der Vorrunde gelernt hatte, war beeindruckend."
Gegen Tunesien war bereits mit einem 19:11 zur Pause die Weiche zum 35:28-Erfolg gestellt, gegen Frankreich wurde nach einem 14:9 beim Seitenwechsel ein 29:26 eingefahren und auch gegen Island gab es ein insgesamt souveränes 33:28 (17:11). Polen hatte zwar zwei Punkte gegen Frankreich gelassen, blieb aber aufgrund des gewonnenen Direktvergleichs vor dem DHB-Team, das im Viertelfinale so auf Spanien traf.
Ausgerechnet Spanien: Eine Mannschaft, mit der sich die deutsche Auswahl in den Jahren zuvor immer wieder gemessen hatte. Ein Abnutzungskampf, der am Ende mit dem 27:25 (15:12) für Jubel bei den deutschen Fans sorgte. Da Frankreich überraschend mit Kroatien den Sieger der zweiten Hauptrunde ausgeschaltet hatte, kam es im Halbfinale zu einer Wiederholung des Hauptrundenspiels.
"Die Franzosen waren individuell sehr gut. Es war klar, dass wir sie nicht zweimal klar schlagen würden", sagt Heiner Brand, der sich im Vorfeld des erneuten Duells mit dem Europameister zu einem besonderen Videostudium entschied.
"Jeder erwartete eine DVD mit Spielszenen. Doch ich zeigte ein Video von der Ehrung von Michael Kraus als Bravo-Boy aus dem Jahr 2000", berichtet Brand. "Alle haben herzhaft gelacht." Das Spiel war allerdings ein Thriller bester Güte: "Das war ein Höhepunkt der WM", blickt Brand zurück. Direkt nach dem Krimi hatte er auf der Pressekonferenz klar gestellt: "Erwartet jetzt keine Analyse von mir, ich bin selbst noch ganz verwirrt."
Denn die ausverkaufte Kölnarena stand vollends Kopf, als Henning Fritz den letzten Wurf von Daniel Narcisse entschärft hatte - eine der zahlreichen wichtigen Glanztaten des deutschen Torhüters, die letzte in der achtzigsten Minute eines Thrillers.
Es hatte die zweite Verlängerung benötigt, um dieses Spiel mit so vielen Geschichten zu entscheiden: Der Kampf der deutschen Deckung gegen den französischen Rückraum, die fast tragischen Fehlwürfe von Pascal Hens und Christian Zeitz, die Einwechslung des zu einem Faktor werdenden Lars Kaufmann, das gewagte Kempa-Anspiel von Markus Baur auf Dominik Klein und der Pfiff der Schiedsrichter, der Frankreich noch heute in Aufruhr versetzt.
Das DHB-Team hatte kurz vor der Sirene den Vorteil buchstäblich aus der Hand gegeben: Ein schlechter Pass zurück, ein Ballverlust unter Druck. Torsten Jansen versuchte das Unheil noch zu verhindern und Michael Guigou umzureissen - die schwedischen Schiedsrichter pfiffen und versuchten Frankreich genügend Zeit für einen letzten Angriff zu erhalten.
Allerdings hatten die Unparteiischen übersehen, dass Fritz als zusätzliche Anspielstation gegen die offensive französische Deckung aus dem Tor gerückt war und Guigou gedankenschnell den Ball trotz Bedrängnis aus der Distanz aufs deutsche Tor geworfen hatte. Der Ball landete im Netz - der Treffer, der Frankreich ins Siebenmeterwerfen gebracht hätte, aber zählte nicht.
Der Pfiff war erfolgt, es gab kein Zurück - und damals auch noch keine Regelung hinsichtlich der letzten dreißig Sekunden. Frankreich blieben noch eine Sekunden, doch das linke Bein von Henning Fritz sicherte Deutschland kurz darauf das Ticket ins Finale. "Da hätten wir uns auch geärgert", kommentierte Brand, der sich in die Lage des Gegners versetzen konnte: Im EM-Finale in Schweden war der deutschen Auswahl ein Treffer nach einer Schnellen Mitte aberkannt worden, der den EM-Triumph bedeutet hätte.
Im Finale gegen Polen, das sich - ebenfalls nach zweifacher Verlängerung - in seinem Halbfinale mit 36:33 gegen Dänemark durchgesetzt hatte, lief es zunächst nach Plan. Ein 21:14 stand auf der Anzeigetafel, der Weg zur Revanche für die Vorrundenniederlage und zum Titel schien geebnet. Doch Henning Fritz musste mit einer Wadenverletzung vom Parkett und die Mannschaft von Bogdan Wenta kam auf.
Beim 22:21 war der Anschluss gesetzt. Im Tor zeigte der eingewechselte Johannes Bitter eine Glanzleistung, doch in der Offensive hakte es in dieser Phase. Bitter verhinderte den Ausgleich und Pascal Hens löste den Knoten in der Offensive mit einem Doppelschlag zum 24:21, der die Weichen zum 29:24-Erfolg stellte.
Die letzten Minuten bebte die Arena, "Oh wie ist das schön" klang es aus 19.000 Stimmen. "Das ist ein Traum, einfach unglaublich. Wir haben das Ding. Es ist wurstegal, wie das Spiel war", erklärte Markus Baur nach Spielende. Deutschland feierte, in der Arena, auf dem Balkon, bei zahlreichen Public Viewings und den Wohnzimmern.
"Wir sind mit unserer Arbeit und unserem Produkt in eine neue Dimension vorgestoßen, die durchaus mit dem Fußball zu vergleichen ist", erklärte Ulrich Strombach. Eine bessere Image-Kampagne hätte sich der damalige DHB-Präsident nicht wünschen können: Spätestens beim Halbfinal-Krimi gegen Frankreich entdeckten plötzlich Millionen Deutsche ihr Herz für den Handball.
Vergleiche mit der Fußball-WM waren angesichts der guten Stimmung im Land und der verblüffenden TV-Einschaltquoten von mehr als zehn Millionen Zusehern auch damals allgegenwärtig. Bundestrainer Heiner Brand geriet ins Schwärmen: "Ich habe mich immer gegen den Begriff Wintermärchen gewehrt. Aber was in den vergangenen Spielen passiert ist, ist absolut außergewöhnlich. Das ist für unseren Sport eine tolle Geschichte."
Zu dieser gehörte auch nicht nur der Erfolg des DHB-Teams, sondern auch die Begeisterung an den Spielorten ohne deutsche Beteiligung sowie die Unterstützung für kleinere Teams wie Grönland oder Australien bei den gut besuchten Partien im erstmals ausgetragenen President`s Cup, in dem die Plätze 13 bis 24 ausgespielt wurden.
"Ich möchte den Deutschen für die WM danken. Die Hallen waren voll. Das war Werbung für den Handball", lobte Lino Cervar damals, Vladimir Maximov bekannt: "Am meisten habe ich mich über die deutschen Zuschauer gefreut. Die Leute haben uns während der WM. einfach überall unterstützt. Das war großartig." Und der Isländer Alfred Gislason befand: "Für uns war es eine super WM. Sie war toll organisiert und die Stimmung in den Hallen war großartig."
Am Ende aber bleiben vor allem die Bilder des DHB-Teams im kollektiven Gedächtnis, wie die Siegerehrung, zu der alle Spieler mit einem angeklebten Brand-Schnauzer erschienen. "Diese Mannschaft hat ein enormer Zusammenhalt ausgezeichnet. Viele Spieler haben auf ihrem Topniveau agiert", lobt Brand die WM-Helden von damals.
cie, mit Material dpa und Archiv