07.09.2024, 10:11
Bock auf Handball
Vor rund einem Monat holte Alfred Gislason mit dem DHB-Team bei den Olympischen Spielen sensationell die Silbermedaille, heute feiert der Handball-Bundestrainer seinen 65. Geburtstag. Doch, wie arbeitet Alfred Gislason eigentlich? In der ersten Ausgabe unseres Print-Magazins Bock auf Handball gewährte der Isländer bei einem Road-Trip durch seine Heimat einen Einblick in seine Trainer-Philosophie und Grundsätze.
Die Erstausgabe von Bock auf Handball lieferte einen Einblick in die Philosophie von Alfred Gislason: Wahrheit und Klarheit zwei zentrale Punkte - auch im Umgang mit seinen Spielern. Im Print-Magazin verriet und begründete der Isländer die Grundsätze seiner Trainerarbeit, aufgeteilt in sieben Themenblöcke.
Nach dem beeindruckenden Finalsieg gegen den THW Kiel in der Champions League besuchten Dietmar Gessner und Sascha Klahn im Jahr 2010 Alfred Gislason auf Island. Auf der Ringstraße - noch unter dem Eindruck des Kiel-Coups von Köln - wuchs die Neugier auf die Beantwortung folgender Fragen: Wie arbeitet Alfred Gislason als Trainer? Was ist die Basis seines Tuns? Welche Eckpfeiler in Umgang, Inhalt und Ansprache sind für seine Arbeit elementar und unverrückbar?
Schon damals sagte Alfred Gislason einen Satz, der noch immer gilt: "Was immer Du machst, es muss funktionieren. Auf Dauer folgt Dir eine Mannschaft nur, wenn sie die Erfolge erkennt, die durch die Maßnahmen entstehen." Die Autoren fügen an: "Immer wieder haben wir uns in den vergangenen Jahren dazu mit Gislason ausgetauscht, zuletzt im Oktober 2020 bei einem Treffen in Magdeburg. Die sieben Themenblöcke zu den Grundsätzen seiner Trainerarbeit sind ein Ergebnis.
Unverrückbar für Alfred Gislason: "Lügen ist nie erlaubt!" Das heißt vor allem: Spieler müssen bei Gislason auch schwer verdauliche Wahrheiten ertragen können. Gislason ist mit all seinen Spielern per Du, auch "weil es die Ansprache `Sie´ im Isländischen gar nicht gibt."
Einzel- und Gruppengespräche sind für ihn unverzichtbar, wobei Gislason die Ansprache an die Gruppe bevorzugt: "Beides wird gemacht. Ich habe es in der Vergangenheit allerdings meist so gehalten, dass ich vor und mit der gesamten Mannschaft gesprochen habe, um direkt vor der Mannschaft für Klarheit zu sorgen." Klarheit ist wichtig, gehört deshalb auch kerniges Beschimpfen zum Repertoire seiner verbalen Menschenführung? Antwort Gislason: "Ja."
Wobei er einräumt, dass "ich früher mal lauter war, als ich es heute bin. Ich bin etwas ruhiger geworden. Aber natürlich bin ich sehr direkt, wenn sich meiner Meinung nach etwas ändern muss." Zur Konfliktlösung und zum Ausschöpfen des Potenzials der Spieler setzt Gislason auch auf den Nutzen professioneller Helfer: "Ein Mentalcoach ist sehr willkommen in Einzelgesprächen mit den Spielern. Ich habe eher weniger davon gehabt, einen Mentalcoach mit der gesamten Mannschaft arbeiten zu lassen."
Es gibt Trainer quer durch alle Sportarten, die auch mal mit ihren Spielern in der Freizeit abhängen, sei es bei einer Golf-Runde oder an der Theke. Das lehnt Alfred Gislason ab.
"Außerhalb unseres Handball-Alltags habe ich eher weniger Kontakt zu meinen Spielern, sicher auch durch den Altersunterschied bedingt. Allgemein habe ich trotzdem einen guten persönlichen Kontakt, aber deswegen gehe ich nicht mit ihnen feiern oder unternehme sonst etwas gemeinsam mit ihnen. Das mache ich fast nie."
Ist ein Trainer gleichwohl geeignet, Ansprechpartner für private Probleme der Spieler zu sein? "Ja, bestimmt. Dafür habe ich ein offenes Ohr", so Alfred Gislason.
Als Vereinstrainer war Alfred Gislason seit Jahrzehnten dafür bekannt, kaum Kernaufgaben aus der Hand zu geben: "Ich habe meist wenig delegiert und eher alles selbst gemacht. Weil es einfach schneller ging."
"Das Problem bei meinen Co-Trainern in den vergangenen drei Jahrzehnten war, dass ich trotz aller Absprachen oft kurzfristige Änderungen hatte, teilweise, ohne mit ihnen zu sprechen, von jetzt auf gleich. Weil es effektiver war", so Alfred Gislason.
Beim DHB ist Co-Trainer Erik Wudtke sein erster Ansprechpartner. Doch vor allem das Sichten der Videos ist für Gislason Chefsache: "Meist mache ich das Videostudium selbst, aber bei großen Turnieren müssen sich der Co-Trainer und auch der Torwart-Trainer sicherlich an der Vorbereitung auf die nächsten Gegner beteiligen."
Weit mehr als im Fußball zum Beispiel ist im Handball das präzise Analysieren des Gegners elementar. Konkrete Spielzüge orientieren sich sehr oft an den spezifischen Eigenarten des Kontrahenten.
Alfred Gislason: "Ich beschäftige mich relativ viel mit dem Gegner. Man spricht in der Gegnervorbereitung natürlich auch viel über sich selbst, was gut und was nicht gut funktioniert, aber ich gehe auch immer sehr intensiv auf den nächsten Gegner ein. Ich seziere dann nach Angriff und Abwehr, speziellen Spielertypen und Taktiken."
Alfred Gislason ist ein Info-Junkie. Daher nutzt er das Wissen der Spieler, beharrt nicht dogmatisch auf eigenen Ansichten und Erfahrungen: "Wenn Spieler irgendwelche Erfahrungen zu vermitteln haben, dann höre ich natürlich sehr gerne zu. Ich erkläre meine Ansichten sehr oft und detailliert."
"Vielleicht beziehe ich die Spieler nicht immer mit ein, aber grundsätzlich ist der Weg, das Warum, sehr transparent. Natürlich versucht man als Trainer die Taktiken in Angriff und Abwehr an das vorhandene Spielermaterial anzupassen. Du kannst nicht zu Juri Knorr sagen, er solle bitte wie Daniel Narcisse spielen. Das ist weder möglich noch aus meiner Sicht empfehlenswert."
Druck gehört zur DNA im Leistungssport. Deshalb bevorzugt Alfred Gislason den offenen Umgang mit Druck: "Druck ist keine negative Sache für mich. Jeder von uns macht sich selbst sehr viel Druck. Der Mannschaft muss man diesen Druck natürlich auch vermitteln, denn sonst hat sie spätestens auf dem Spielfeld umso mehr Druck." Doch auch klar ist: Unter Druck entstehen Fehler, auch eigene Fehler.
Gibt Alfred Gislason eigene Fehler zu, oder hält er derlei Selbstkritik für ein Zeichen von Schwäche? "Wenn ich einen Grund zur Entschuldigung habe, dann entschuldige ich mich. Sonst habe ich aus meiner Sicht die Wahrheit gesagt." Gislason gilt als geduldiger Trainer - aber das nur, wenn die Spieler sich durch Lernbereitschaft und Einsicht diese Geduld immer wieder verdienen.
Kritik, auch sehr deutliche, müssen sie ertragen können. Aber öffentliche Kritik als taktisches Mittel lehnt Alfred Gislason ab: "Ich denke, ich habe oft von meinen - ehemaligen - Spielern gehört, dass sie immer die Eigenschaft an mir geschätzt haben, dass ich mich immer vor die Mannschaft gestellt habe. Auch wenn es nicht berechtigt war."
Handball ist in seiner Schnelligkeit und Dynamik ein so anspruchsvolles Spiel, dass eine Kernkompetenz von Spielern der Mut ist, Verantwortung zu übernehmen. Das fördert Alfred Gislason. Das Erstellen von Strafenkatalogen - die er für notwendig hält - überlässt er weitgehend der Mannschaft.
Nachtruhe-Kontrollen kommen für ihn ebenso wenig in Frage wie präzise Vorgaben zum Umgang mit Ernährung und Alkohol, denn "man kann an die Spieler nur appellieren, wie sie zu leben haben. Ihr Kapital ist ihr Körper und was sie können. Natürlich versuche ich sie dazu zu drängen, nicht zu rauchen, weniger Party zu machen".
Dabei setzt er auf das bewährte Prinzip einer indirekten Kontrolle durch Zeit-Management: "Dass sie nicht so viel Alkohol trinken sollen, wissen sie selbst. Auch deswegen habe ich fast an jedem Morgen nach einem Spiel um zehn Uhr morgens ein Training angesetzt." Allerdings muss der gewährte Vertrauensvorschuss immer wieder verdient werden.
Lässt Leistung nach, wird Gislason neugierig - und misstrauisch: "Entweder können die Spieler selbst mit ihrem Leben umgehen, oder sie müssen woanders spielen. Natürlich kontrolliere ich Form und Gewicht und solche Dinge. Wenn bei jemandem die Leistung herunter geht, dann fange ich auch wieder damit an, regelmäßig Gewichtsmessungen vorzunehmen und dergleichen."
Gleichwohl setzt Gislason auch auf die heilende Wirkung einer funktionierenden Teamhierarchie, die regelt vieles selbst: "Eine Mannschaft ist normalerweise wie ein Organismus: Sie schafft sich ihre Hierarchie selbst." Und wo die Hierarchie funktioniert, da ist meist auch die Basis für Erfolge gelegt. Wenn dann noch der Trainer weiß, was wann richtig ist, dann sind Siege wahrscheinlich.
Hinweis: Diese Geschichte stammt aus der ersten Ausgabe von Bock auf Handball, die - wie alle früheren Ausgaben - weiterhin im Online-Shop unseres Magazins erhältlich ist. Die aktuelle Ausgabe Nummer 16 ist unterdessen derzeit auch im gut sortierten Zeitschriftenhandel zu finden.
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Am 20. August 2024 erscheint die sechszehnte Ausgabe von "Bock auf Handball". Mit dabei sind wieder spannende Charaktere aus dem Handball. Eine große Bildergeschichte gibt beispielsweise einen exklusiven Blick hinter die Kulissen bei den Füchsen Berlin, die sich auf die Saison in der Champions League vorbereiten.
Zudem haben wir mit Patrick Wiencek über sein Hobby an der Angel, mit Kentin Mahé über seine Rückkehr nach Gummersbach und mit Tobias Reichmann über seine Premiere in Berlin gesprochen. Eine ganz besondere Geschichte ist mit Sicherheit auch der Besuch bei Susi Meerkamp, die mit 80 Jahren die älteste aktive Handballerin ist. "Viel Spaß beim Lesen", so das Team von Bock auf Handball.
Unsere Highlights in Ausgabe 16 auf 124 Seiten
mehr als 30 Seiten exklusiv hinter den Kulissen der Füchse Berlin
- Patrick Wiencek beim Angelausflug
- Kentin Mahé: Ein großer Franzose in Klein-Paris
- Tobias Reichmann über eine Premiere in seiner Geburtsstadt Berlin
- Magnus Saugstrup: Der Stratege am Kreis vom SC Magdeburg
- Susi Meerkamp: Die älteste Handballerin der Welt
- Elias Ellefsen á Skipagøtu: Der Mutmacher einer ganzen Nation
- u.v.m.
Bock auf Handball erzählt interessante Geschichten über die Stars des Handballs. Das Einzelheft gibt es für 8,50 Euro im gut sortierten Zeitschriftenhandel sowie im Online-Shop als Einzelheft - versandkostenfrei in Deutschland - und im Abo. Zudem gab es im vergangenen Jahr ein Sonderheft zum THW Kiel und eines zum Themenbereich Schiedsrichter im Handball.
Bock auf Handball