16.12.2023, 16:22
Was sagen Schiedsrichter, Trainer, Spieler?
Bei den internationalen Großturnieren im Handball ist der Videobeweis seit mehreren Jahren Usus - und zu dieser Saison zog auch die LIQUI MOLY HBL nach. Die Schiedsrichter:innen können seit zwei Monaten in jedem Spiel in der deutschen Beletage auf die technische Unterstützung zurückgreifen und kritische Szenen im Video überprüfen. Was sagen Spieler, Trainer und vor allem die Unparteiischen zu den ersten Erfahrungen?
Wir haben für den "Tag des Schiedsrichters" nachgefragt - unter anderem bei Schiedsrichter-Chefin Jutta Ehrmann-Wolf, Top-Referee Robert Schulze und Gummersbach-Coach Gudjon Valur Sigurdsson.
Das erste Urteil fällt relativ einhellig aus: Grundsätzlich sei die Einführung des Videobeweises ein Schritt in die richtige Richtung. Dass es diese Technik jetzt in der Bundesliga gebe, sei "sehr gut", hält Olympia-Schiedsrichter Robert Schulze fest. "International haben wir schon festgestellt, dass es eine super Unterstützung ist und das gilt auch für die Bundesliga. Auch bei den Vereinen spüren wir einen großen Zuspruch, sie sehen das positiv."
Das zeigen auch die Anfragen von handball-world.news an ausgewählte Erstligisten. "Ich halte es für eine gute Sache, der uns weiterbringt", sagt Jasmin Camdzic, Sportlicher Leiter der HSG Wetzlar. "Der Handball braucht Veränderung, der Handball braucht die Weiterentwicklung." Gudjon Valur Sigurdsson, Trainer des VfL Gummersbach, teilte mit: "Ich finde, dass der Videobeweis gut und vernünftig genutzt wird."
"Es ist eine Hilfe für die Schiedsrichter", glaubt auch Peter Walz, Kapitän des ThSV Eisenach. Und Nationalspieler Lukas Mertens (SC Magdeburg) erklärte am Rande vom "Tag des Handballs": "Ich finde den Videobeweis gut, auch wenn er noch nicht so häufig angewendet wird wie erwartet."
Das grundlegende Fazit von Jutta Ehrmann-Wolf, Leiterin Schiedsrichterwesen im Deutschen Handballbundes, fällt zum aktuellen Stand ebenfalls positiv aus: "Nach Startschwierigkeiten setzen unsere Schiedsrichter:innen den Videobeweis sehr gut um und wir sind davon überzeugt, dass sich das Thema Stück für Stück immer mehr etabliert und festigt."
Dass es seit der Einführung bislang keine große Grundsatzdiskussion über den Videobeweis in der Handball-Bundesliga gibt, mag auch daran liegen, dass das System bewährt ist: Man übernahm die Regularien der internationalen Verbände, mit denen viele Nationalspieler sowie die in der Königsklasse spielenden Klubs schon vertraut sind. "Der einzige Unterschied für uns: In der Champions League müssen wir den Bildschirm selbst bedienen", flachst Schulze.
In der LIQUI MOLY HBL stellt jeder Verein dafür so genannte Operator, die vor den Bildschirmen sitzen und die von den Schiedsrichter:innen gewünschten Szenen abspielen. "An dieser Stelle möchte ich die Vereine loben", betont Schulze. "Sie haben den Videobeweis organisatorisch sehr gut vorbereitet." Die Technik sei in der ganzen Liga Neuland gewesen, aber "die Verantwortlichen in den Klubs beschäftigen sich intensiv damit und hinterfragen, wenn etwas unklar ist." Es sei ein "super Dialog", wie der Spitzen-Schiedsrichter hervorhebt.
Reibungslos lief die Einführung jedoch nicht ab: Gleich am ersten Spieltag versagte an einzelnen Standorten die Technik und auch die Unparteiischen mussten sich erst an die neue Option gewöhnen. So gab es sowohl Kritik, weil vereinzelt auf den Videobeweis verzichtet wurde, obwohl die Situation einen Einsatz ermöglicht hätte, aber auch, weil der Videobeweis zwar gezogen wurde, die Schiedsrichter:innen jedoch vermeintlich zu lange brauchten, um eine Entscheidung zu treffen.
"Unter Wettkampfbedingungen bedarf es Zeit und Übung, den Videobeweis schnell und sauber anzuwenden", nimmt Schulze seine Kollegen in Schutz, die zu einem Großteil vorher noch keine Erfahrung mit der Technik hatten. "Wenn die Mannschaften und die Zuschauer auf eine Entscheidung warten und du im Hinterkopf weißt, dass auch das Fernsehen wartet und die gleiche Szene abspielt, die du gerade siehst: Das ist eine nicht zu unterschätzende mentale Stresssituation." Das müsse erst trainiert werden - und "in der Regel geben uns die Beteiligten auch die Zeit, die Bilder in Ruhe anzuschauen."
Bei den Vereinen hält man sich mit Kritik auch zurück. "Die Schiedsrichter haben natürlich eine gewisse Zeit gebraucht um einzuschätzen, wann und wie man das braucht, aber sie haben einen sehr guten Weg gefunden und treffen auch vernünftige Entscheidungen", urteilt beispielsweise VfL-Coach Sigurdsson. "Im Großen und Ganzen ist es ein Hilfsmittel, dass uns alle nach vorne bringen soll und das ist bisher ganz gut gelaufen."
Bei der HSG Wetzlar sieht man hingegen noch eine mangelnde Selbstverständlichkeit im Umgang mit der Technik, aber auf allen Seiten. "Ich spüre noch eine fehlende Klarheit und eine gewisse Vorsicht. Es fehlen einfach noch die Erfahrung und das Vertrauen, es gibt noch keine hundertprozentige Sicherheit", fasst Camdzic zusammen.
Im Fußball sei die Pause durch den Videobeweis im Gegensatz zum Handball bereits normal, glaubt der sportliche Leiter: "Die ein, zwei Minuten, die die Schiedsrichter am Bildschirm stehen, werden von Schiedsrichtern, Mannschaften und Zuschauern noch ganz unterschiedlich wahrgenommen. Manchmal entsteht dadurch ein Druck, der noch nicht da war. Und die Pause kann sich auf die Performance einer Mannschaft auswirken. Der Videobeweis ist einfach noch kein Automatismus."
Abseits von zu langer Nutzung, Kriterien oder technischen Ausfällen ist die entscheidende Frage ohnehin eine andere: Macht der Videobeweis den Handball gerechter? "Ich bin davon überzeugt, dass der Videobeweis, die eine oder andere Szene gar nicht entstehen lässt, denn grobe Fouls außerhalb des direkten Spielgeschehens können ja mit dem Videobeweis nachvollzogen und somit geahndet werden", betont Ehrmann-Wolf.
Auch der Blick in die Statistik spricht aus ihrer Sicht für die Technik, denn eine maßlose Nutzung sei nicht zu erkennen. "Wir nutzen den Videobeweis aktuell im Schnitt unter einmal pro Spiel", sagt die Schiedsrichter-Chefin, "und wenn er zur Anwendung kommt, liegt die Nutzungsdauer deutlich unter zwei Minuten vom Anzeigen der Geste auf dem Spielfeld bis zur Bekanntgabe der Entscheidung."
Das sei "ein sehr guter Wert", wie Ehrmann-Wolf betont, "und auch die Akzeptanz bei allen Beteiligten ist sehr hoch." Dem stimmt Top-Schiedsrichter Schulze zu: "Wenn der Videobeweis genommen wird, vertrauen die Spieler und Mannschaften auf die Entscheidung."
Julia Nikoleit