23.07.2024, 12:00
Herzlichen Glückwunsch!
Als Bundestrainer hat Vlado Stenzel den deutschen Handball 1978 zu einem der größten Erfolge überhaupt geführt: Der Gewinn des WM-Titels in einem packenden Finale gegen die Sowjetunion ist untrennbar mit seinem Namen verbunden. Am heutigen Dienstag wird der "Magier" 90 Jahre alt.
Vor gut 46 Jahren führte Vlado Stenzel die deutschen Handballer zum WM-Titel, am heutigen Dienstag (23. Juli) feiert er nun seinen 90. Geburtstag - und ein Gespräch zu seinem Ehrentag dreht sich nach wenigen Sätzen bereits wieder um den Handball: "Ja, mir geht es sehr gut hier im schönen Dalmatien, ich habe meine Routinen und beschäftige mich nach wie vor mit meinem Lieblingssport Handball", sagte er Michael Franz.
"Auf meinen Geburtstag freue ich mich natürlich, denn es werden tatsächlich über 70 Freunde kommen - natürlich die Spieler meiner beiden Nationalmannschaften. Aber ich glaube, ich muss 100 Jahre alt werden, um zu erleben, dass Handball wieder zu den Regeln zurückfindet, die ihn wirklich ausmachen, die sinnvoll sind - ohne unnötigen Ballast", so die Trainerlegende.
“Es ist mir einfach ein Rätsel, warum sich die Experten bei der IHF immer wieder etwas Neues einfallen lassen, was nicht zu Ende gedacht ist. Und besonders wundert mich, dass meine Freunde vom DHB, des weltgrößten Handballverbandes aus dem Mutterland unseres Sports, hier tatenlos zusehen", ist Vlado Stenzel direkt in seinem Element.
Mehr als 70 Party-Gäste werden im kroatischen Skradin mit Stenzel das Leben feiern, darunter auch Heiner Brand (71) und Kurt Klühspies (72), zwei Weltmeister von 1978. Damals, beim "Märchen" von Kopenhagen, trug Stenzel als Bundestrainer die Verantwortung, verdiente sich den Spitznamen "Magier".
Und schrieb ein Stück deutsche Sportgeschichte. Stenzel, gelernter Chemielaborant aus Zagreb, regierte als Coach mit harter Hand, ließ seinen Leistungsträgern aber auch Freiräume. Er trug eine vergoldete Papierkrone auf dem Kopf, als seine Spieler wie Horst Spengler oder Heiner Brand den Kroaten nach dem Final-Krimi gegen die Sowjetunion aus der Halle trugen.
"Er war ein sehr guter Trainer, der seiner Zeit voraus war, zumindest in Deutschland", erzählt Brand anlässlich Stenzels 85. Geburtstags. "Er hat dem deutschen Handball klar gemacht, dass man mit zweimal Training in der Woche nicht ganz oben ankommen kann." Unter Stenzel fingen Brand und Co. an, bis zu zweimal täglich für jeweils zwei Stunden zu trainieren.
Der spätere Bundestrainer Brand erinnert sich immer noch mit einem gequälten Lächeln an eine genau drei Stunden und 40 Minuten lange Einheit kurz vor den Olympischen Spielen. "Wir dachten eigentlich, dass nach zwei Stunden Schluss ist. Aber Pustekuchen."
Trotzdem ist Stenzels Verhältnis zu seinen besten Spielern immer eng geblieben. Wie keiner seiner Vorgänger legte er Wert auf die Zusammenstellung einer Mannschaft. Als er im Sommer 1974 als DHB-Coach anfing, sortierte er nach und nach ältere Spieler aus. Stenzel setzte auf junge, begeisterungsfähige Sportler wie Brand, Joachim Deckarm oder Kurt Klühspies, die ihm und seinen Ideen folgten.
Auf der Suche nach dem optimalen Teamgeist arbeitete er mit Soziogrammen, welche er auf Basis von Befragungen seiner Spieler erstellte, nach dem Motto: "Wer passt wie und mit wem am besten zusammen?"
Zudem übertrug er seinen Ehrgeiz auf das Team. "Als ich nach Deutschland kam, da haben viele Nationalspieler nur zwei Mal die Woche trainiert", sagte Stenzel einmal dem SID: "Aus der Pampe musste ich dann eine große Mannschaft formen." Das gelang. Der WM-Titel war sein zweiter ganz großer Erfolg als Trainer, 1972 schon hatte er mit Jugoslawien Olympia-Gold gewonnen.
"Unser Sport ist extrem athletisch, oft akrobatisch geworden, die technischen Fertigkeiten der Spieler sind oft sensationell und das Tempo ist Atem beraubend hoch - mit Vor- und Nachteilen", so Vlado Stenzel im Gespräch zu seinem Geburtstag. Auf den Einwand, dass ein hohes Tempo mit vielen Toren doch auch attraktiv sei, antwortet der Jubilar: "Vielleicht schon und ein Vergleich mit dem Handball früherer Jahre hinkt bestimmt. Aber es hatte eben auch seinen Reiz, wenn um jedes Tor viel mehr gerungen und gekämpft werden musste als heute."
Und den heutigen Handball hat Vlado Stenzel weiter im Blick: "Ich höre von Jugendspielen in Deutschland, die irgendwie 44:38 ausgehen. Da bezweifle ich, dass so alle Fähigkeiten unserer komplexen Sportart gut ausgebildet werden. Defizite in der Defensive sind nur eine der logischen Folgen", berichtet der Weltmeister-Trainer, der anfügt: "Aber mich stören doch grundsätzlich einige Regeln und vor allem ihre Auslegung. Das würde ich gerne hier zusammenfassen und alle Freunde des Handballs ein wenig zum Nachdenken einladen."
"Zuerst folgendes: Es wäre doch ein sportliches Ziel, wenn das Ergebnis auch das wahre Kräfteverhältnis der Mannschaften abbilden würde - und zwar ohne diese Verzerrungen durch mehr oder weniger unkalkulierbare Regelauslegungen. Und das ist genau keine Kritik an den Schiedsrichtern, aber an der Kompliziertheit einiger Regeln, die den Schiedsrichtern die Entscheidungen unnötig erschweren", so die Trainer-Legende, die ausführt: "Es sind fünf Punkte: Das Spiel 7:6 - Abwehr gegen Außenspieler - Offensiv-Foul - Passives Spiel - Freiwurf nach Abpfiff."
"Diese und die anderen Regeln zerstören das Handballspiel. Oft heisst es ja, dass Handballer intelligenter als Fussballer sind. Aber im Fußball gibt es in Jahrzehnten nur ganz wenige, wohl überlegte, sogar sinnvolle Regeländerungen. Ich bin wirklich entsetzt, dass gerade auch der DHB das alles mitgemacht hat und sich nicht traut, auch mal Gegenvorschläge zu machen", so Vlado Stenzel.
"Beginnen wir mit diesem Spiel 7:6, was ja dann ohne Torwart läuft und so mit der superschnellen Mitte immer häufiger zu leichten Toren führt. Die werden zwar umjubelt; aber wo ist da die Leistung? Ins leere Tor zu werfen, das mag lustig sein und manchmal spannend, aber mit der Grundidee von Handball hat das nix zu tun. Außerdem: Wenn 7:6 gespielt und ja wohl immer mehr auch trainiert wird, dann sind offensive Deckungsformen kaum noch möglich. Man wartet nur mehr oder weniger hilflos auf die Torchance oder einen dummen Fehler der Angreifer. Begeistert bin ich da nicht", so Vlado Stenzel.
"Kommen wir zu den Außenspielern bzw. der Bestrafung schon bei eigentlich geringsten Berührungen. Selbstverständlich bin ich für die Bestrafung von groben und dummen Fouls. Aber der Verteidiger muss doch eine faire Chance haben! Heute stehen die Außenspieler nur noch in der Ecke, warten auf ein Zuspiel, laufen frei an und werfen völlig unbedrängt. Der Abwehrspieler darf eigentlich nur zusehen und klatschen", echauffiert sich Vlado Stenzel.
"Ein gesunder Körperkontakt, der einen wesentlichen Reiz unseres Sports ausmacht, muss auch hier erlaubt sein. Für mich entscheiden die Schiedsrichter da allzu oft einseitig", so der Trainer, der anfügt: "Und das gilt auch für das Offensiv-Foul. Hier sehe ich ganz oft ganz unterschiedliche Maßstäbe und Entscheidungen. Hier sollten die Kriterien noch genauer definiert werden, denn gerade, weil das Spiel extrem athletisch ist, sollten intelligente Abwehrspieler belohnt, natürlich Schauspieler auch bestraft werden."
"Die größte Katastrophe überhaupt!", sei das Passive Spiel so Vlado Stenzel. "Beim Fußball gibt es das überhaupt nicht, beim Basketball eine klare und objektive Zeitmessung. Ja, theoretisch könnte es langweilig werden, wenn sich die Angreifer ohne Torgefahr den Ball zuspielen. Aber warum tun sie das? Entweder, weil sie in Unterzahl sind oder eine Führung verteidigen wollen. Na, und? Dann soll sich die Abwehr etwas einfallen lassen und offensiv attackieren!"
"Wir hätten ein lebendiges Spiel und die Schiedsrichter hätten nicht diesen riesigen, oft unberechenbaren Ermessensspielraum. In unteren Klassen und vor allem der Jugend pfeifen oft Leute, die so auch eine gute Spielanlage zerstören. Plötzlich fangen wir an, die Zahl der Pässe zu zählen, wie ein Kleinkind - das ist absurd", so die Trainerlegende mit Feuer für seine Sportart, für die er sich auch ein besseres Ende als einen direkten Freiwurf nach der Sirene wünscht.
"Es geht ja immer ein Foul voraus und darauf sollte ja eine Strafe folgen, also hier ein Freiwurf an der 9m-Linie. Wenn es da um nichts mehr geht, lässt der Schütze den Ball oft einfach fallen - meinetwegen. Aber manchmal könnte es noch entscheidend sein, nur die Chance gegen eine Mauer von 3 mal 3 Meter ist extrem minimal, der eine oder andere Zufallstreffer ändert daran nichts. Und genau das hatten wir jetzt beim Champions League-Finale. Es gab nur eine klitzekleine theoretische Chance für Mikkel Hansen auf das Ausgleichstor", so Stenzel, der als Verbesserung anregt: "Da gewährt man dem Angriff einen zusätzlichen Pass. Der Angriff geht in Position, die Abwehr muss sich auflösen und es könnte eine kreative, spektakuläre, finale Aktion geben."
Aber nicht nur die allgemeine Entwicklung im Handball auch seine früheres Team, die deutsche Nationalmannschaft, verfolgt der seit heute 90-Jährige weiter genau. "Deutschland ist das Kernland des Handballs, hat die meisten Zuschauer weltweit und ein riesiges Potential. Deutschland kann und muss wieder richtig erfolgreich sein; darf sich nicht mit so einem Abstand zur Weltspitze zufriedengeben", fordert der Weltmeister von 1978.
"Es gibt ein klares Prinzip, das sicher nicht von mir ist, ich aber mein Leben lang beherzigt habe und jedem empfehle: Lernen von den Besten! Lernen von denen, die auf ihrem Gebiet Meisterschaft demonstriert haben - von Spitzentrainern und Spitzennationen", gibt Vlado Stenzel nicht nur jüngeren Trainergenerationen als Rat mit auf dem Weg.
"Im Handball sind das also vor allem Frankreich und Spanien, auch Island und sicher Dänemark", so Stenzel, der anfügt: "Wahrscheinlich ist gar nicht bekannt, dass die Dänen mich nach der WM 1978 für eine Lehr-DVD geholt haben, die dann landesweit verteilt wurde. Das war vielleicht der Impuls für diese sensationelle Entwicklung bis heute. Und so wünsche ich auch dem DHB, dass er vom 'besser wissen' bald zum 'besser machen' kommt."
Vor etwa fünf Jahren hat der "Magier" unterdessen das "Kernland des Handballs" verlassen und ist aus Wiesbaden zurück in seine kroatische Heimat gezogen. "In einem wunderschönen Ort" namens Skradin, "eine fantastische Ecke". Skradin ist eine kroatische Kleinstadt in der Nähe der kroatischen Adriaküste und liegt ungefähr zwischen Split und Zadar. Er habe dort einen Wald, und das "traumhafte Meer" liege nur 15 Minuten entfernt. Fast täglich geht er spazieren oder schwimmen - und feiert heute seinen 90. Geburtstag.
Hinweis: Die Zitate stammen aus einem Interview, das Michael Franz - A-Lizenz- und Diplomtrainer Handball - mit Vlado Stenzel führte.
cie, mit Material, SID, dpa, DHB und Michael Franz