11.11.2024, 12:00
Ein schmaler Grat zwischen Stimmungsmache und Kontrollverlust
Beschimpft, angerempelt, mit Wasser übergossen: Die Verhältnisse im Handball mögen für Schiedsrichter (noch) nicht so schlimm sein wie im Fußball, aber dennoch erleben die Unparteiischen Anfeindungen und Gewalt durch Zuschauer. Ein Appell von Elitekader-Schiedsrichter Thorsten Kuschel für mehr Respekt und weniger Kontrollverlust.
Der Handball lebt von seinen Emotionen, auf dem Spielfeld und auf den Tribünen. Die Bundesliga ist für die Zuschauer ein Entertainment; sie kommen in die Halle, um sich zu amüsieren und einen Ort zu haben, an dem sie den Alltag vergessen und auch mal über die Stränge schlagen können. Meine Kollegen und ich wissen das und wir akzeptieren bis zu einem gewissen Punkt, dass es für viele Fans dazugehört, uns auszupfeifen und beschimpfen.
Es ist jedoch ein schmaler Grat zwischen Stimmung machen und Kontrollverlust.
Ich habe in meinen 25 Jahren als Schiedsrichter so manches Beispiel erlebt, wo dieser schmale Grat verlassen wurde. Es war jedoch nie, das möchte ich ausdrücklich betonen, ein Spieler oder Trainer, der mich physisch angegangen hat. Wenn, kam es immer aus dem Zuschauerbereich.
In einer Halle der 2. Frauen-Bundesliga führt der Weg in die Schiedsrichter-Kabine mitten durch den Zuschauerbereich, vom Spielfeld aus geht es eine Treppe hoch und dann durch den Umlauf. Als wir in der Halbzeitpause in die Kabine wollten, hat mich ein Zuschauer an der Schulter gepackt und mich angeschrien: "Was eine Sch***."
Das war ein deutlicher Grenzübertritt, so etwas ist nicht in Ordnung. Der Verein hat es leider nicht für notwendig erachtet, die Schiedsrichter präventiv von Ordnern begleiten zu lassen, damit so etwas verhindert werden kann. 99 Mal passiert auch gar nichts, aber beim 100. Mal gibt es eben einen, der eine Dummheit macht.
In einem anderen Spiel stand es zur Halbzeit 20:12 für den Heimverein, der Endstand war 22:22. Direkt nach Abpfiff stürmte der Mann einer Spielerin in strammen Schritten auf das Spielfeld und hat mich im Vorbeigehen mit der Schulter weggecheckt. Ich bin gestolpert und zu Boden gefallen.
So etwas darf nicht passieren. Das hat im Handball nichts verloren - unabhängig davon, wie viel "Schuld" der Schiedsrichter aus Perspektive eines Fans an einem Ergebnis hat.
In der vergangenen Saison haben wir in einem Spiel der 1. Männer-Bundesliga kurz vor der Halbzeit eine Zeitstrafe für die Heimmannschaft gegeben. Ein Zuschauer stand auf der Tribüne über dem Eingang in den Kabinengang und hat, über die Balustrade hinweg, seinen Getränkebecher auf uns gekippt. Das Wasser hat mich an Kopf und Schulter getroffen. Der Zuschauer ist weggerannt.
Ich war nicht verletzt, aber ich habe mich wahnsinnig erschrocken. Und ich war schockiert, wie ein Mensch auf so eine Idee kommt. Dem Verein mache ich keinen Vorwurf. Die Ordner haben sich gut verhalten und später wohl auch herausgefunden, wer der Täter war und das intern geklärt. Das hat uns aber nicht mehr interessiert - in der Halbzeit kurz geschüttelt und weiter ging es mit dem Spiel.
Wir haben im Handball zum Glück noch längst nicht solche Verhältnisse wie beispielsweise im Fußball. Dafür müssen wir alle dankbar sein, denn was die Schiedsrichter dort erleben müssen, finde ich teilweise unerträglich. Der Schiedsrichter ist dort ebenso wie der Gegner ein Feindbild.
Es fallen hasserfüllte Beleidigungen, Verunglimpfungen und Schimpfwörter, die unter jedem Niveau sind. Oder sogar Bedrohungen nach dem Spiel, sowohl für den Schiedsrichter als auch für die Familie, wie jüngst erst geschehen, so dass zuhause Polizeischutz notwendig war. So weit sind wir im Handball noch lange nicht, aber wir müssen auf die Entwicklung aufpassen.
Als Schiedsrichter in der Bundesliga sind wir in gewisser Weise abgestumpft. Wir haben über die Jahre und durch unsere Erfahrung eine harte Schale entwickelt, an der vieles abprallt. Das ist im Amateurbereich - und gerade im Kinder- und Jugendhandball - jedoch anders.
Die Situation für die Kolleginnen und Kollegen an der Basis ist viel schlimmer, denn während die Beleidigungen bei tausenden Zuschauern zu einem Rauschen werden, ist jeder Einzelkommentar in den kleinen Hallen im ganzen Land deutlich zu hören. Und im Zweifelsfall sogar viel persönlicher, weil man sich kennt.
Ich bin als Schiedsrichter-Coach bei einem Spiel in der C-Jugend gewesen, das von einem Nachwuchsschiedsrichter geleitet worden ist. Es war bekannt, dass es in der Halle öfter ein Problem mit Zuschauern gibt. Ich wollte wissen, ob es tatsächlich so ist. Nachdem der junge Kollege eine Zeitstrafe gegen den Heimverein gegeben hatte, höre ich von der Tribüne den Vater des hinausgestellten Spielers brüllen:
"Das nächste Mal haust du ihm so richtig in die Fresse, damit er sich den Kiefer bricht. Dann lohnt sich die Zeitstrafe auch. Der Schiedsrichter blickt ja sowieso nichts." Der Schiedsrichter war 15 Jahre alt.
Ich habe den Vater angesprochen, was er sich dabei denkt. Er war absolut resistent und hatte keinerlei Unrechtsbewusstsein. Er hat mir deutlich zu verstehen gegeben, dass ich ihm nichts zu sagen hätte, denn er könne machen, was er will - das mache er in der großen Arena ja auch.
Abgesehen davon, dass es aus meiner Sicht ein absolutes No-Go ist, als Erwachsene junge Schiedsrichter überhaupt anzugehen, spiegelt diese Aussage genau das (gesellschaftliche) Problem, das wir haben: Die Kinder und Jugendlichen wachsen damit auf, dass es normal, sich derart daneben zu benehmen.
Wenn ich nicht auf dem Spielfeld stehe, bin ich im Hauptberuf Lehrer an einem Gymnasium und ich erlebe jede Woche, was es für Auswirkungen hat, wenn sich die erwachsenen Vorbilder unflätig oder ausfallend benehmen. Als ich einen Schüler aufgrund seiner Ausdrucksweise zurechtgewiesen habe, hat er zu mir gesagt: "Am Wochenende habe ich das doch auch gesagt."
Wie soll ich einem 14-Jährigen klarmachen, dass er seinen Mitschüler nicht beleidigen darf, wenn er Woche für Woche erlebt, wie seine Eltern im Stadion die Schiedsrichter oder Gegner beleidigen?
Kinder und Jugendliche können so etwas bis zu einem gewissen Alter nicht differenzieren - und wenn sie alt genug sind, um zu unterscheiden, ist es längst Normalität. Das ist brutal. Wir müssen uns nicht wundern, wie sich die nächste Generation diesbezüglich entwickelt - und genau deshalb habe ich weiter oben bereits geschrieben, dass wir auch im Handball aufpassen müssen.
Denn das, was wir in der Halle erleben, ist letztendlich das Gleiche, was wir mittlerweile auch in der digitalen Welt erleben: Man versteckt sich hinter der Masse, um seinen Frust, seine Wut oder was auch immer abzuladen und sich besser zu fühlen. Solche Pöbler sind in der Regel jedoch nicht mutig genug, uns die Kritik ins Gesicht zu sagen.
Nach einem Einsatz sind wir durch das Foyer zum Auto gegangen und wurden von einer kleinen Gruppe in den Rücken bepöbelt. Ich bin stehen geblieben, habe mich umgedreht und sie aufgefordert, mir doch ins Gesicht zu sagen, was genau sie stört. Die Zuschauer haben sich erschrocken und zwei Situationen des Spiels zusammengestammelt. Ich habe ein, zwei Dinge dazu erklärt und zu einer Sache gesagt: "Stimmt, das war ein Fehler, da stand ich schlecht."
Mein Gegenüber hat überrascht geschwiegen und schließlich gesagt: "Ich verstehe eh nicht viel, ich bin vom Fußball und wollte nur bisschen rumbrüllen." Und er hat gesagt, dass er es stark fände, dass ich ihm das jetzt erklärt habe. Damit hätte er nie gerechnet und hat sich schließlich für meine Courage bedankt.
Wer sich jetzt fragt, warum wir Schiedsrichter uns das antun? Man erträgt es, weil es dazu irgendwie gehört, weil es unsere Aufgabe im Spiel, das wir alle lieben, mit sich bringt. Ich lasse mir den Spaß an der Aufgabe nicht kaputt machen.
Zuschauer dürfen gerne buhen und pfeifen; es ist schade, wenn das passiert, aber wir akzeptieren das als einen Bestandteil. Aber: Es gibt Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen! Es macht nun einmal einen Unterschied, ob jemand "Schieber" ruft oder eine asoziale Beleidigung ausspricht.
Mir hat im Umgang mit solchen Erlebnissen immer geholfen, mir klarzumachen, dass die Menschen nicht mich persönlich beschimpfen, sondern meine Funktion, die Position, die ich innehabe. Diese Abstraktion macht es im Handling einfacher.
Am Anfang habe ich damit deutlich mehr gekämpft und gehadert und auch jetzt gibt es manchmal noch einen Kommentar, der an der Schale kratzt, der mich fuchst und ärgert, aber ich lasse es nicht an mich heran. Und man verdrängt auch ganz viel. Es ist eine harte Schule, aber wenn man durchhält, macht es einen als Persönlichkeit stärker. Das große Problem ist jedoch, dass der Schutzpanzer - die harte Schale - am Anfang noch nicht da und deshalb hören so viele Schiedsrichter früh wieder auf.
Wenn ich drei Wünsche frei hätte, wäre das an erster Stelle ein Jugend- und Amateurhandball, in dem Jugendliche ohne Angst ihre ersten Schritte als Schiedsrichter machen können und nicht beschimpft werden - egal, wie schlecht man die Leistung vielleicht findet -, sondern man ihr Engagement honoriert. Wir können es uns nicht leisten, die Bundesliga-, Oberliga- und Kreisklasse-Schiedsrichter der Zukunft zu verlieren, weil ein erwachsener Zuschauer einen schlechten Tag hat.
Ich würde mir wünschen, dass jeder Fan darüber nachdenkt, wo seine Grenze liegt und ob es sich lohnt, diese zu überschreiten.
Und ich würde mir wünschen, dass jeder Vater und jede Mutter, jeder Großvater und auch jeder Trainer in der Halle überlegt, ob er mit seinem Verhalten gerade das richtige Vorbild für sein Kind, seinen Enkel oder seine Spieler ist.
Wenn - falls - das eintritt, gäbe es wahrscheinlich so manchen Zuschauer mehr, der den schmalen Grat zwischen Stimmung machen und Kontrollverlust nicht mehr verlassen würde. Und das hilft nicht nur jedem Schiedsrichter, sondern vor allem der Sportart Handball, die wir alle lieben.
Thorsten Kuschel (aufgeschrieben von Julia Nikoleit)