14.01.2024, 12:52
Deutschland beste Schiedsrichterinnen bei Heim-EM im Einsatz:
Tanja Kuttler (34) und Maike Merz (37) haben sich aus den beschaulichen Handballhallen rund um den Bodensee bis in die Weltspitze hochgearbeitet. Seit fünf Jahren pfeifen die Schwestern in der 1. Männer-Bundesliga, 2023 waren sie als erste deutsche Frauen für eine Männer-Weltmeisterschaft nominiert - und nun sind sie bei der Heim-Europameisterschaft im Einsatz.
Der 27. Mai 2018 ist ein ganz besonderes Datum in der Karriere von Tanja Kuttler und Maike Merz: Die Schwestern leiteten an diesem Sonntag ihr erstes Spiel in der 1. Männer-Bundesliga zwischen Frisch Auf Göppingen und GWD Minden. Es war das erste Mal seit 2009, dass ein Frauen-Gespann in der deutschen Beletage pfiff; der Einsatz sorgte deutschlandweit für Schlagzeilen. "Der nächste Schritt wird sein", sagte Kuttler damals, "zu einem Team heranzuwachsen, das regelmäßig in dieser Spielklasse eingesetzt werden kann."
Fünf Jahre später haben die Schwestern nicht nur dieses Ziel erreicht und sich in der LIQUI MOLY HBL etabliert, sondern mit so manch anderem Meilenstein für Schlagzeilen gesorgt: Da waren beispielsweise die Frauen-Weltmeisterschaften 2019 und 2021. Das Champions-League-Finale der Frauen 2022. Der PIXUM SuperCup 2022 der Männer. Die Frauen-Europameisterschaft 2022. Die Männer-Weltmeisterschaft 2023. Und nun, innerhalb weniger Wochen: Die Frauen-WM 2023 und die Männer-EM 2024 im eigenen Land.
"Dass die Rolle des Schiedsrichters leider bis heute oft mit negativen Aspekten assoziiert wird, ist schade", bedauert Merz. "Denn auch als Schiedsrichter hat man positive Erlebnisse und feiert Erfolge - wenn auch oft hinter verschlossenen Türen, weil sie nicht so greifbar sind wie eine Meisterschale oder ein Pokal."
Manchmal können die Schwestern die Entwicklung selbst nicht glauben. "Hätte mir jemand vor fünf Jahren gesagt, wo wir heute stehen, hätte ich ihn für verrückt erklärt", sagt Kuttler offen. "Wir haben schon jetzt so viel mehr erreicht als wir uns je erträumt haben - es hat sich ausgezahlt immer einen Fuß vor den anderen zu setzen."
"Was wir in den vergangenen Jahren erreicht haben", sagt auch Merz, „fühlt sich selbst im Rückblick manchmal noch unwirklich an. Ich glaube manchmal fehlt uns die Zeit, das alles überhaupt zu realisieren.
Für alle ihre Erfolge haben Kuttler und Merz ebenso wie die Spieler Woche für Woche geschuftet, trainiert, geackert. Sie reißen pro Spielzeit alleine in der LIQUI MOLY HBL tausende Kilometer ab, sind bei internationalen Einsätzen tage-, manchmal wochenlang nicht daheim und investieren unzählige Stunden in Videoanalyse und Fitnesstraining.
Der Urlaub richtet sich nach dem Spielplan, für den Handball verpassten die Schwestern schon etliche Familienfeiern und auch in ihrem ‚Brotjob’ stecken sie zurück, um die Schiedsrichterei so seriös wie möglich zu verfolgen. "Es ist schön zu sehen, dass sich die harte Arbeit, die wir täglich in unsere Leidenschaft stecken, auszahlt und wir so viel dafür zurückbekommen", betont Merz. "Wir sind unfassbar stolz auf das, was wir erreicht haben."
Das Pfeifen auf höchstem Niveau gleicht längst den Anforderungen an einen Leistungssportler im Handball. Für Kuttler und Merz ist diese Parallele durchaus naheliegend. "Das Pfeifen ist unser sportlicher Wettkampf", sagt Merz. "Wir sehen uns als Sportler, als Leistungssportler, und verfolgen diese Karriere ebenso ernsthaft wie Spieler oder Trainer."
Und ebenso lang und steinig, wie der Weg in die Spitze für viele Topathleten ist, war er auch für Kuttler und Merz - gerade mit der Hürde 1. Männer-Bundesliga. "Wir mussten darum kämpfen, die Männer-Spiele zu bekommen", erinnert sich Kuttler. "Das war ein großer Schritt für die Verantwortlichen, sie wollten uns beschützen. Denn auch, wenn wir immer unterstützt wurden, hat man uns das lange nicht zugetraut."
Inzwischen gehören sie selbstverständlich dazu. "Vor unseren Schwangerschaftspausen wurden wir eher als „Quotenfrauen" für das eine oder andere Spiel in der Männerbundesliga nominiert, jetzt sind wir ein etablierter Teil der Elite im deutschen Schiedsrichterwesen“, beschreibt Merz. Sie betont die Unterstützung: "Woche für Woche wurden wir gefordert und gefördert."
Als einziges Frauen-Gespann in der Männer-Bundesliga haben die Schwestern zwar weiterhin ein Alleinstellungsmerkmal, aber eine Sonderrolle lehnen sie ab. "Wir wollen nicht nur Gleichberechtigung, sondern Gleichbehandlung - wir nehmen auch die Nachteile mit", betont Kuttler. Bei den Fitnesstests, welche der Deutsche Handballbund verlangt, legen sie für sich dieselben Maßstäbe an wie ihre männlichen Kollegen.
"Wir haben immer die Männer-Zeiten absolviert und das war uns auch wichtig, als wir nach unseren Schwangerschaften eingestiegen sind", betont Merz. "Eine Sonderbehandlung hilft uns nicht, denn auf dem Spielfeld verzeiht einem keiner etwas. Man muss auf diesem Niveau einfach seine Leistung bringen - das Geschlecht darf keine Entschuldigung sein."
Seit der Saison 2021/22 setzt Schiedsrichter-Chefin Jutta Ehrmann-Wolf - einst zusammen mit Gespannpartnerin Susanne Künzig die erste Schiedsrichterin in der 1. Männer-Bundesliga - den Gedanken der Gleichstellung konsequent durch. In allen Kadern des Deutschen Handballbundes sollen die Frauen-Gespanne die gleichen Spiele erhalten wie ihre männlichen Kollegen und müssen sich mit ihnen dem Wettkampf in Sachen Auf- oder Abstieg stellen.
Es war ein Wendepunkt, denn zuvor liefen die Frauen-Teams nebenbei mit; sah man Potenzial bei einem weiblichen Gespann, wurde es unabhängig vom Ranking in den nächsthöheren Kader versetzt, bekamen aber qualitativ nicht dieselben Spiele wie die männlichen Kollegen.
Außerdem wurden die weiblichen Teams oft nicht im selben Tempo wie die männlichen Kollegen "befördert". Die beiden Schwestern befürworteten diesen Schritt der absoluten Gleichstellung. "Es hilft keinem weiter, wenn man nur dort oben steht, weil man eine Frau ist", betont Merz. "Das Thema Quote haben wir deshalb schon immer abgelehnt",
So profitieren zwar auch die beiden Schwestern, die seit 2008 gemeinsam pfeifen, in ihren Anfängen von dem 'Frauen-Sonderweg' im Schiedsrichterwesen, doch dass sie sich seit fünf Jahren in der nationalen und internationalen Spitze halten, haben sie schlicht und einfach ihrer Leistung zu verdanken.
Als Weltmeister Christian Schwarzer den Einsatz der Frauen-Gespanne bei der Männer-Weltmeisterschaft 2023 kritisierte, sorgte das medial für Gegenwind. "Absolut aus der Zeit gefallen", widersprach beispielsweise Verbandschef Andreas Michelmann. "Es ist doch inzwischen das Normalste der Welt, dass Frauen einen solchen Job übernehmen." Und auch die deutsche Torhüter-Legende Andreas Thiel hielt trocken fest: "Sie können pfeifen und haben das Handballspiel verstanden. Darauf kommt es an."
Kuttler und Merz selbst blieben cool und ließen die Diskussion an sich abtropfen. "Der Handball zeigt, dass er im aktuellen Jahrhundert angekommen ist, und gibt da allen die gleichen Chancen und Rechte. Das ist das, was wir empfinden", kommentierte Merz.
"Das Schöne ist, dass wir sowohl in der Bundesliga als auch international auf der Platte überhaupt keine Unterschiede wahrnehmen. Wir fühlen uns voll akzeptiert. Wir haben immer das Gefühl, dass wir einen guten Draht zu den Spielern und Trainern haben und dass es tatsächlich keine Rolle spielt, wer da gerade pfeift", sagte Kuttler.
Die Nominierung für die laufende Heim-Europameisterschaft 2024 gibt den Schwestern recht. "Eine Heim-Meisterschaft ist für jeden Sportler etwas ganz Besonderes", betonte Kuttler vor dem Turnier. Bislang haben die Schwestern bereits zwei Einsätze absolviert: In Mannheim gaben sie beim Spiel Schweden gegen Bosnien-Herzegowina ihr Debüt, zwei Tage später folgte die Ansetzung für Griechenland gegen Dänemark.
Rückenwind für das Turnier im eigenen gibt ihnen eine erfolgreich absolvierte Frauen-Weltmeisterschaft im Dezember, bei der die Schwestern erneut ein Halbfinale erhielten. "Es war ein tolles Turnier", konstatierte Merz kurz vor den Feiertagen. „Wir hatten fünf wirklich gute Spiele, haben dreimal eine Heimmannschaft in toller Atmosphäre gepfiffen. Wir haben gezeigt, dass wir unsere Leistung auf diesem Niveau bringen und wir für die wichtigen Spiele in Frage kommen.“ Auch Kuttler sprach von einem "guten Turnier mit ausschließlich positiven Erlebnissen".
Ob der Rückblick auf gelungene Turniere oder die Vorfreude auf weitere Erlebnisse, ob schöne Momente oder harte Phasen, ob ein geiler Auftritt oder ein verpatztes Match: Kuttler und Merz wollen keine ihrer Erfahrungen missen. Denn abseits des Leistungssports und aller Karriereziele haben auch Kuttler und Merz schlicht und einfach Spaß.
"Wir sind seit unserer Kindheit riesige Handballfans und wir lieben den Sport. Entsprechend macht es uns unheimlich Spaß, als 'dritte Mannschaft' bei den Spielen anzutreten", sagt Merz. "Das Pfeifen ist für uns ein Ausgleich, es ist eine Auszeit von Beruf und Familie."
Und vielleicht, ganz vielleicht greift ja das ein oder andere Mädchen zur Pfeife, weil es sieht, was Kuttler und Merz als Frauen erreichen konnten. "Als wir damals angefangen haben, waren Frauen an der Pfeife beinahe undenkbar", erinnert sich Merz an den Beginn ihrer Karriere. "Jutta und Susanne haben sich zu dieser Zeit bereits in der höchsten Spielklasse der Herren behauptet und uns hat deren Karriere immer Hoffnung gemacht, es auch schaffen zu können." Und nun, einige Jahre später, haben sie es geschafft - und sind selbst Vorbild für die nächste Generation.
Hinweis: Dieser Artikel erschien erstmals am 01. November 2023 im Schiedsrichter-Sonderheft von Bock auf Handball und wurde für die Veröffentlichung auf handball-world.news aktualisiert.
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