11.11.2024, 09:30
Elitekader-Referee Mirko Krag über Job und Pfeifen
Schiedsrichter:innen sind mehr als reine "Regelpolizisten", es sind Kommunikation, Fingerspitzengefühl und Stressresistenz gefragt. Das sind Fähigkeiten, die Mirko Krag auch in seinem Beruf als Polizeibeamter abverlangt werden. Für die 14. Ausgabe von Bock auf Handball (erschienen im Februar 2024) zog der Bundesliga-Schiedsrichter Parallelen und erklärte, warum Polizisten häufig gute Schiedsrichter sind.
Die Internationalen Hallen-Handballregeln bestehen aus 18 Spielregeln, hinzu kommen 17 Handzeichen, 8 Erläuterungen und verschiedene Guidelines und Interpretationen. Dieses Regelwerk ist die Grundlage für den Handballsport - und auf dessen Einhaltung zu achten, die Aufgabe der rund 19.000 Schiedsrichter:innen in Deutschland.
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland hat 146 Artikel. Hinzu kommen tausende Bundes- und Landesgesetze sowie Rechtsverordnungen. Über 330.000 Polizist:innen in Deutschland achten auf die Einhaltung der Gesetze, die das Zusammenleben in der Gesellschaft regeln.
Für Mirko Krag geben die Gesetze sowie das Regelwerk den Rahmen seiner Tätigkeit als Polizist und Schiedsrichter vor. "Ich habe mich sowohl dem Gesetz als auch dem Regelwerk verpflichtet und stehe dahinter", betont der 37-Jährige.
Gesetz und Regelwerk stellen "die Grundlage dessen dar, was ich tue", betont er. "Natürlich gibt es Situationen, in denen ich mich auch mal unwohl fühle, aber ich kann das, was ich mache, immer mit mir vereinbaren. Ich stehe voll hinter meinem Beruf und der Schiedsrichterei, denn es sind beides wundervolle Tätigkeiten."
Die Begeisterung sorgt dafür, dass der Frankfurter beiden Passionen bereits lange treu ist: Seitdem er als 16-Jähriger mit dem Pfeifen begann, steht Mirko als Schiedsrichter auf dem Feld; es sind inzwischen über 20 Jahre. Für die Laufbahn als Polizist entschied er sich direkt nach der Schule. Seit er 2007 mit der Ausbildung begann, ist er diesem Weg treu geblieben. "Ich brenne für beide Tätigkeiten", sagt er und wer ihm länger zuhört, zweifelt daran auch nicht.
Sowohl der Beruf des Polizisten als auch das Amt des Schiedsrichters bringen viel Verantwortung mit sich. "Als Polizist lernst du früh, welche gesamtgesellschaftliche Verantwortung du trägst, denn du vertrittst das Gewaltmonopol des Staates", beschreibt es Mirko. "Das ist etwas Großes."
In der Ausbildung geht es daher nicht nur darum, die Gesetze kennenzulernen, sondern auch darum, sich der eigenen Rolle bewusst zu werden. "Wir dürfen unsere Macht nicht missbrauchen", sagt Mirko. "Dem Vertrauen, das uns übertragen wird, muss ich ebenso wie jeder andere Polizist gerecht werden." Bevor ein Polizist Beamter auf Lebenszeit werden kann, dauert es daher einige Jahre und mehrere Tests und Prüfungen.
Und obwohl Mirko natürlich um die Kritik an der Polizei weiß, könnte er sich keinen anderen Job vorstellen. "Es wird viel über die Polizei geschimpft und es läuft sicherlich nicht alles rund, aber wenn ich das mit anderen Ländern vergleiche, können wir froh über unseren Staat und unser System sein."
Auch als Schiedsrichter trägt Mirko viel Verantwortung. "Anders als bei der Ausbildung zum Polizisten ist mir das beim Pfeifen aber erst nach und nach bewusst geworden", gibt er zu. Als 16-Jähriger tingelte er unbedarft durch die Hallen in und um Frankfurt und besserte sein Taschengeld mit dem Pfeifen auf statt weiter Zeitungen auszutragen. Es machte schlicht und einfach Spaß.
Mit jedem Aufstieg in den nächsthöheren Kader stieg jedoch der Druck - und damit auch die Verantwortung. "Das Vertrauen, dass wir mit jedem Aufstieg und jedem größeren Spiel bekommen habe, hat zugleich eine größere Bürde bedeutet", sagt Mirko. "Da ist das Verständnis dafür gewachsen, welche Verantwortung ein Schiedsrichter eigentlich trägt."
Gemeinsam mit seinem Gespannpartner Marcus Hurst arbeitete sich Mirko nach oben. Im Oktober 2014 pfiffen die beiden früheren Gegenspieler - Mirko spielte als Jugendlicher für den TuS Nieder-Eschbach, Marcus für die TSG Oberursel - ihr erstes Match in der 1. Männer-Bundesliga. Seitdem haben sie sich im Elitekader etabliert und wurden 2023 erstmals für das REWE Final4 um den DHB-Pokal nominiert.
Als Polizist und Bundesligaschiedsrichter hat Mirko quasi zwei Vollzeitjobs - und die Vereinbarkeit war nicht immer leicht. Nach den ersten Jahren im Bereitschaftsdienst mit Einsätzen bei Demonstrationen, Fußballspielen oder Castor-Transporten wechselte er in den Streifendienst in Frankfurt, doch nach weiteren Aufstiegen als Schiedsrichter musste er feststellen: Der Schichtdienst vertrug sich mit dem Pfeifen in der Bundesliga nicht.
"Ich wäre gerne länger geblieben, aber das war nicht zu vereinbaren", erinnert er sich. Also warf er den Plan für seine Polizeikarriere über den Haufen und wechselte in die Ermittlungsarbeit, wo er Körperverletzungsdelikte und Diebstahl verfolgte. 2018 wurde er Schutzmann vor Ort, 2023 folgte der Aufstieg in die Polizeidirektion Nord in Frankfurt, wo er unter anderem für größere Einsatzplanungen zuständig ist. Um unter der Woche zu den Spielen fahren zu können, baut er Überstunden ab oder nimmt auch mal einen Urlaubstag; um den Kopf zwischendurch frei zu kriegen, geht es zur Entspannung in die Therme („da kann ich richtig gut abschalten“).
Seine beiden Leidenschaften weisen viele Parallelen auf. Sowohl Polizisten als auch Schiedsrichter brauchen ein großes Gerechtigkeitsempfinden, dürfen niemanden absichtlich bevorzugen oder benachteiligen - Stichwort Neutralität - und müssen zugleich konsequent sein können.
"Wenn es notwendig ist, muss ich eine gewisse Stärke zeigen, um Gesetz oder Regelwerk durchzusetzen - vor allem mental", beschreibt Mirko. "Wenn ich im Kopf nicht bereit bin, wenn ich selbst nicht dahinter stehe, strahle ich das aus. Dann schaffe ich es weder als Polizist noch als Schiedsrichter, mich durchzusetzen." Man brauche einfach "eine gewisse Leidenschaft dafür, dass alles sauber abläuft und sich jeder an das hält, was Vorgabe ist."
Das Regelwerk kann aber ebenso wie das Gesetz nur der Rahmen bieten. "Sich als Schiedsrichter nur auf das Regelwerk zu beziehen, ist zu wenig", sagt Mirko. "Ein guter Schiedsrichter kann mehr, ein guter Schiedsrichter macht mehr." Junge Schiedsrichter pauken in den Ausbildungskursen an der Basis zwar zunächst das Regelwerk, bis der letzte Absatz sitzt, doch auf dem Feld lernen sie meistens schnell, dass das tatsächlich nicht reicht. Es braucht Körpersprache und Souveränität, Kommunikation und Stressresistenz, mentale Stärke und das Wissen um die eigene Wirkung.
"Ein guter Schiedsrichter", fasst Mirko zusammen, "braucht den B-Bereich." Dieser umfasst im offiziellen Beobachtungsbogen der Unparteiischen im Gegensatz zum A-Bereich (Spielregeln) den persönlichen Eindruck - und damit Punkte wie Persönlichkeit und Zusammenarbeit der Schiedsrichter:innen, die Einflussnahme auf bzw. die Kommunikation im Spiel sowie die generelle Spielleitung.
"Natürlich müssen wir als Schiedsrichter die Regeln umsetzen, aber wir haben dabei einen gewissen Ermessensspielraum", erklärt Mirko. "Das Entscheidende ist die Gleichbehandlung. Drücke ich auf der einen Seite ein Auge zu, weil es zum Spielverlauf passt, muss ich das in einer ähnlichen Situation auf der anderen Seite auch. Das nennt man dann Linie."
Diesen schmalen Grad zwischen der Einhaltung der Regeln und einem gewissen Fingerspitzengefühl bei ihrer Auslegung zu finden, ist auch als Polizist wichtig. "Beide Bereiche haben mir da unglaublich viel gegeben und haben gegenseitig voneinander profitiert", beschreibt Mirko. "Als Polizist habe ich gelernt, mich durchzusetzen, was mir auf dem Handballfeld hilft und beim Handball habe ich durch den Umgang mit Spielern und Trainern meine Kommunikationsfähigkeiten verbessert, was ich in den Job mitnehmen konnte." Nicht umsonst sind neben Mirko auch mehrere andere Bundesligaschiedsrichter:innen im Polizeiberuf tätig.
Zur Wahrheit gehört aber auch: Sowohl als Polizist als auch als Schiedsrichter "musst du allerdings auch einstecken können", sagt Mirko. Und egal, ob Polizist oder Schiedsrichter: Es gilt immer wieder, die gleichen Vorurteile auszuräumen. "Ich werde oft gefragt, ob das stimmt, was im Tatort gezeigt wird", schmunzelt Mirko. „Und als Schiedsrichter wird gefragt: Wirst du auch so angemeckert wie die Schiedsrichter im Fußball?“
(Die Antwort lautet übrigens in beiden Fällen: Nein. "Die uniformierten Kollegen müssen nicht immer das Flatterband hochhalten", grinst Mirko. "Und wir können beim Handball wirklich froh über den Umgang sein.")
Trotz der Vorbehalte, der Kritik und der Beleidigungen will Mirko keine seiner beiden Leidenschaften missen: "Ich liebe beide Tätigkeiten und möchte dazu beitragen, dass das Zusammenleben in der Gesellschaft so ordentlich wie möglich und unsere Sportart so fair wie möglich abläuft." Polizist und Schiedsrichter: Das passt einfach zusammen.
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jun