07.06.2024, 17:15
Zweite Welle - Deine Handball-Kolumne
Der SC Magdeburg ist aktuell das Maß aller Dinge. Es wäre aber zu früh, vor dem Final4 der Champions League von einer Wachablösung des THW Kiel zu sprechen. Und warum? Weil gleich mehrere Dinge dagegen sprechen.
Eine Kolumne von Daniel Duhr
Im März dieses Jahres sagte Deutschlands Handball-Vordenker Nummer eins, Bob Hanning: "Magdeburg ist das Maß aller Dinge, wie es früher der THW Kiel war." Jetzt ist Hanning mit einer beeindruckenden Trefferquote nicht nur Vordenker sondern auch Vorherseher.
Seine Visionen von heute sind morgen meist Realität. Schon deswegen wäre es nicht mutig, sondern übermütig, an dieser Stelle zu widersprechen. Ob es aber schon ein anhaltender "Machtwechsel" oder eine anhaltende "Wachablösung" ist, wie dieser Tage breit diskutiert wird?
Ja, der SC Magdeburg ist aktuell das Maß aller Dinge. National, natürlich. Und auch international, ja. Die Bestätigung dafür können sie an diesem Wochenende beim Final4 in Köln liefern.
Ja, es ist beeindruckend, was SCM-Trainer Bennet Wiegert und sein gesamtes Team in den vergangenen knapp zehn Jahren aufgebaut haben. Mit einer wohldosierten Mischung aus Tradition und Mut zu Neuem. Seit 2015 sitzt Benno auf der Trainerbank. Beziehungsweise hockt, steht und springt er davor, bis die Pulsuhr sein Emotionslevel nicht mehr abbilden kann.
Und seit 2015 geht es stetig aufwärts. Pokalgewinn 2016, ein immer druckvollerer, immer schnellerer und immer erfolgreicherer Handball, European-League-Sieg 2021, dreimal in Serie Klubweltmeister, Deutscher Meister 2022 und Champions-League-Sieger 2023, Pokalsieger und Deutscher Meister 2024.
Mit zwei Siegen im Final4 könnte der SCM zum ersten deutschen "Quadrupel"-Gewinner werden: Meisterschaft, DHB-Pokal, Klubweltmeister und Champions-League. Auf das Quadrupel angesprochen, sagt Wiegert: "Bleiben wir demütig." Eine Eigenschaft, die auch ein Baustein des Magdeburger Erfolgs ist.
Ja, das Team ist überragend. Und das - vielleicht das größte Plus im Vergleich mit den anderen Spitzenteams - auch in der Breite. Dazu sind die Magdeburger eine Einheit. Der Zusammenhalt scheint beinahe so groß, dass sie auch ohne Harz auskommen müssten.
Und ja, der Hexenkessel GETEC-Arena und was das Publikum da Spieltag für Spieltag zeigt, ist groß. Die Fans sind immer voll da: gefeiert und gefürchtet, fanatisch und fantastisch.
Es gibt aber auch eine Reihe von "Abers".
Nummer eins: Der THW Kiel war noch bis vor einer Woche amtierender Deutscher Meister. Allein wenn man die Titel des Deutschen Rekordmeisters (23 Mal), Deutschen Rekord-Pokalsiegers (zwölfmal) und mehrfachen Champions-League-, Supercup-, EHF-Pokal-Siegers alle aufzählte, hätte der Artikel schon Überlänge.
Und diese Titel verteilen sich nicht nur auf die vergangenen paar Jahre. Sie sind vielmehr Zeugnis einer ganzen Ära. Dazu 2012 die perfekte Saison mit unglaublichen 68:0 Punkten unter Coach Alfred Gíslason (der schon beide Teams trainiert hat und am Wochenende auch in der Halle ist).
Aber Nummer zwei: Wer den THW abschreibt, hat schon verloren. Das haben die Kieler schon in so vielen Spielen gezeigt. Und das werden sie womöglich auch in der kommenden Saison zeigen. Die Bayern spielen auch immer dann besonders groß auf, wenn sie mal nichts oder "nur" die Meisterschaft gewonnen haben und kurzfristig überholt wurden.
Und schlagen dann umso stärker wieder zurück. Nicht unwahrscheinlich, dass das auch dem FC Bayern des Handballs - wenn man den THW denn so nennen mag - gelingt.
Aber Nummer drei: Auch die Kieler Mannschaft weiß, wie man große Schlachten schlägt. Spätestens seit der fulminanten Aufholjagd im Viertelfinale der Champions League gegen Montpellier.
Sie haben mit Hendrik Pekeler und Patrick Wiencek erfahrene und eingespielte Haudegen in ihren Reihen, mit Domagoj Duvnjak einen Bilderbuch-Anführer und - neben vielen anderen - mit Elias Ellefsen á Skipagotu ein handballerisch wortwörtlich irres Talent an Bord.
Aber Nummer vier: die Fans. Die GETEC-Arena ist zweifelsohne ein Hexenkessel. Aber in der Wunderino Arena kann es ebenfalls äußerst stürmisch werden. Wenn die über 10.000 schwarz-weißen Fans ihre Zebras anpeitschen, ist schon so mancher Gast an der Ostsee gekentert.
Was heißt das jetzt für eine mögliche Wachablösung? Die Wahrheit ist: Wir wissen es nicht. Und das ist auch gut so. Denn das macht die Bundesliga aus und spannender denn je. Gut möglich, dass der SC Magdeburg mit seinem akribischen, erfolgshungrigen und erfolgreichen Coach Bennet Wiegert einfach weiter mit dem Fuß auf dem Gaspedal stehenbleibt und auch die nächsten fünf Jahre das Maß aller Dinge bleibt. Dann müsste man tatsächlich von einer Wachablösung sprechen.
Gut möglich aber auch, dass der THW schon nach der Sommerpause wieder auf Augenhöhe ist. Und wie gewohnt den Rest der Liga wieder von der Tabellenspitze grüßt. Jicha und Co. werden alles dafür tun - für die Fans, für den Verein und auch dafür, dass der Nimbus des übermächtigen THW Kiel nur vorübergehend angezweifelt werden durfte, aber eben noch nicht nachhaltig bröckelt.
Und übrigens: auch möglich, dass der Deutsche Meister 2025 weder in Kiel noch in Magdeburg feiert. Und dass Mathias Gidsel in Berlin, Johannes Golla in Flensburg oder Kentin Mahé in Gummersbach die Meisterschale in den Händen halten. Oder?