11.11.2024, 10:00
Mit Robert Schulze und Tobias Tönnies beim Topspiel in Berlin
"Jetzt höre ich dich wieder. Leider"
Beim Topspiel Füchse Berlin gegen den THW Kiel durfte handball-world den Funkverkehr von Robert Schulze und Tobias Tönnies via Headset live und ungefiltert verfolgen. Ein exklusiver Einblick in die Kommunikation der deutschen Top-Schiedsrichter.
Tobias Tönnies: "Wollen wir?"
Robert Schulze: "Aufgeregt? So muss das sein!"
Im Spiel zwischen den Füchsen Berlin und dem THW Kiel sind noch keine 90 Sekunden gespielt, als Robert Schulze das erste Mal mit klaren Worten eingreift: "Darj, nicht immer stoßen", fährt der Schiedsrichter den Berliner Abwehrspezialisten nach einem Gerangel am Kreis an. Auch Hendrik Pekeler, der Kontrahent des Schweden in dieser Szene, bekommt im gleichen Atemzug eine Ansage: "Wenn da schon jemand steht, hat es keinen Sinn, reinzugehen."
Die Ermahnung des Olympia-Schiedsrichters wirkt. Zwar beharken sich Kreisläufer und Mittelblock in den folgenden Minuten immer wieder, doch das gehört dazu; der gesetzte Rahmen wird ausgereizt, aber nicht grob übertreten. Aus Schiedsrichter-Sicht ein erster Erfolg. Am Ende werden Schulze und sein Gespannpartner Tobias Tönnies dieses Topspiel mit gerade einmal vier Zeitstrafen über die Bühne bringen.
Das wissen zu diesem Zeitpunkt jedoch weder die beiden Unparteiischen aus Magdeburg noch die 9.000 Fans in der ausverkauften Max-Schmeling-Halle. Das Duell zwischen Vizemeister und Rekordmeister elektrisiert, Klatschpappen, Tröten und Musik sorgen für eine Wand aus Lärm. Schulze und Tönnies blenden die Tribünen weitestgehend aus - ihre Konzentration liegt mit dem Anpfiff auf dem Spielgeschehen und der Stimme in ihrem rechten Ohr.
Was kann das Headset leisten?
Seit 2009 haben die Schiedsrichter:innen in der 1. und 2. Bundesliga das Headset zur Verfügung, um auf dem Spielfeld miteinander zu kommunizieren; 2022 wurde auch der Drittligakader ausgestattet. In den Regionalligen und Landesverbänden ist der Einsatz von den Durchführungsbestimmungen abhängig.
Es gibt verschiedene Anbieter für die Technik; Schulze/Tönnies nutzen ein Modell, das auch international zum Einsatz kommt. Knapp 900 Euro kostet das Zweier-Set, das vom Deutschen Handballbund gestellt wird; die zusätzlichen Kosten für individuell angefertige Ohrstecker haben die Referees selbst getragen.
Doch wie kommunizieren die Schiedsrichter während eines Spiels? Wie viel sprechen sie miteinander - und in welchen Situationen? Sprich: Was kann das Headset leisten und wo ist die Grenze der Funk-Unterstützung erreicht?
Tobias Tönnies: "Ich habe Kreis."
Robert Schulze: "Geiles Ding heute!"
Tobias Tönnies: "Übergang hast du."
Vom Lernprozess zur Routine
60 Minuten lang durfte handball-world beim Topspiel in Berlin den Funkverkehr der beiden Schiedsrichter live verfolgen; ungefiltert über ein drittes, mit dem System der beiden Magdeburger gekoppeltes Headset. Von der ersten Sekunde spürbar: Die Routine in der Kommunikation. Viele Kommandos - gefasst in ein, zwei, drei Worte - werden immer wieder wortgleich gegeben; sie sitzen auf den Punkt.
Das ist das Ergebnis eines langen Prozesses. Erhalten Schiedsrichter-Teams das erste Mal ein Headset, ist es zunächst - so hört man es oft von Unparteiischen - erst einmal schwierig. War die Kommunikation mit dem Partner vorher nur optisch durch kleine Gesten und Augenkontakt möglich, kann man sich plötzlich direkt austauschen. Bis man gelernt hat, diese Möglichkeit effizient einzusetzen, kostet der neue Kanal Konzentration, die beim Spielgeschehen fehlt.
Ebenso muss jedes Gespann erst seine gemeinsame Sprache finden. Das eine Team redet nahezu "non-stop", das andere schweigt auch mal längere Phasen. Schwierig wird es, wenn nur einer von zwei Unparteiischen Redebedarf hat und der andere eher Ruhe braucht - dann muss gemeinsam eine Lösung erarbeitet werden.
Ein verbales Abklatschen
Tobias Tönnies: "Gute Abwehr. Ist okay."
Robert Schulze: "Freiwurf, mehr nicht!"
Was bei der Kommunikation von Schulze/Tönnies auch auffällt: Neben den kurzen Absprachen nutzen die beiden Schiedsrichter das Headset für die gegenseitige Bestärkung. Ein Begriff, der immer wieder fällt, ist "sauber" - es ist ein kurzes verbales Abklatschen nach einer guten Entscheidung des Partners.
Eine der vier Zeitstrafen, die sie an diesem Sonntag aussprechen, kassiert der bereits in der Anfangsphase ermahnte Kreisläufer Darj zehn Minuten vor dem Ende der Partie. "Am Kreis bei Patrick, du ziehst ihn rein am Trikot", erklärt Schulze die Hinausstellung und ergänzt auf eine Erwiderung des Schweden: "Eben war es zu viel." Noch während sein Gespannpartner spricht, meldet sich Tönnies über Headset mit einem Lob zu der Entscheidung: "Sehr geil."
Der gegenseitige Support zieht sich wie ein roter Faden durch die Partie. Schlechte Entscheidungen werden hingegen - in diesem Spiel - nicht kommentiert. "Natürlich kannst du jede Entscheidung des Partners, die du nicht gut findest, direkt ansprechen, aber was bringt das?", wird Schulze später auf Nachfrage in den Raum stellen und selbst die Antwort geben: "Das bringt dir in so einem Spiel nichts." Bei einem Topspiel gibt es keine Peitsche, es gibt Zuckerbrot - meistens.
Fokus und Frotzelei
Robert Schulze: "Was will der Gidsel? Lass dich nicht so mit ihm ein."
Tobias Tönnies: "Alles okay."
Bei aller Unterstützung: Punktuell kommen auch gegenseitige Zurechtweisungen - oder, positiv formuliert, konstruktive Kritik. Als Gidsel nach einem Durchbruch, gestoppt von drei Kieler Abwehrspielern, liegenbleibt, wollen die Füchse einen Siebenmeter, doch Tönnies schüttelt als Feldschiedsrichter den Kopf. "Vorher Freiwurf", erklärt er seinem Partner knapp über Headset. "Ein bisschen lauter und schneller, bitte", fordert Schulze einen klareren Pfiff.
Der Umgangston im Duo ist faszinierend: Knappe und harte Kommandos zur Information wechseln sich mit gegenseitiger Frotzelei ab. Eine gewisse Dosis Humor, das erzählen viele Schiedsrichter, tut gut: sie sorgt bei aller Konzentration nicht nur für gute Stimmung, sondern kann auch als Ventil dienen. "Seid ihr sicher, dass ihr zuhören wollt?", haben Schulze und Tönnies vorher geflachst. Ob sie sich den ein oder anderen Kraftausdruck in diesen 60 Minuten nur aufgrund des zugeschalteten dritten Headsets verkneifen, wird ihr Geheimnis bleiben.
Ähnlich wie für die Mannschaften gibt es auch für die Schiedsrichter Pflicht- und Küreinsätze. Dieses Topspiel in Berlin ist die Kür; entsprechend fokussiert sind die beiden Unparteiischen. In anderen Spielen fliegen wohl mehr Sticheleien hin und her; an diesem Sonntag sind beide hochkonzentriert. Den ein oder anderen Spruch gibt es aber auch bei dieser Partie.
"Jetzt höre ich dich wieder. Leider."
Robert Schulze (das Headset knistert): "Ich höre dich nicht."
Tobias Tönnies: "Geht es jetzt wieder?"
Robert Schulze: "Jetzt höre ich dich wieder. Leider."
Auch im Umgang mit den Spielern passen die Schiedsrichter ihren Duktus der Situation an. Nach knapp 16 Minuten liegt der THW beim Stand von 9:8 mit einem Tor in Front, als den Füchsen vermeintlich ein technischer Fehler unterläuft. Die Sirene unterbricht, Jaron Siewert hat den Buzzer gedrückt. Die Kieler protestieren, auch nach der Besprechung kommt Duvnjak noch einmal zu Tönnies. "Ich weiß, was du willst", sagt er mit einem Augenzwinkern, der Kroate nimmt es mit einem Lächeln.
Wenn es jedoch notwendig ist, geht es von Null auf Hundert. "Machst du dein Trikot noch einmal hoch nach einer Entscheidung, gehst du raus! Verstanden?", herrscht Schulze einen Berliner nach der Zeitstrafe gegen dessen Mannschaftskollege Mijajlo Marsenic barsch an. Wie bereits in der eingangs beschriebenen Szene wirkt es auch diesmal; zur angedrohten Hinausstellung wird es nicht kommen.
Zur Halbzeit liegen die Füchse Berlin mit 17:15 vorne, es ist bis dato die erwartet umkämpfte Partie. Nicht im Fokus: Die Schiedsrichter. Schulze und Tönnies haben das Spiel im Griffür den Gang in die Kabine nehmen sie das Headset ab, durchatmen, einen Schluck Wasser trinken. Kurz vor dem Wiederanpfiff ein kurzer Faustcheck mit dem eingewechselten Linksaußen Rune Dahmke: "Rune, auf geht’s, oder wat?"
Robert Schulze: "Weiter Spaß haben hier."
Es läuft jedoch nicht für die Kieler, die Füchse setzen sich ab, beim Stand von 21:16 (36.) für die Gastgeber zieht THW-Coach Filip Jicha die Grüne Karte. Kurz darauf wird es das erste und einzige Mal an diesem Abend wirklich hektisch im Funkverkehr, als Pekeler im Neun-Meter-Kreis zu Boden geht, während der Ball noch läuft und beide Schiedsrichter auf den Durchbruch von Mykola Bilyk achten. Der Wortwechsel läuft im Stakkato-Tempo:
Tobias Tönnies (Torschiedsrichter): "Was war da?"
Robert Schulze (Feldschiedsrichter): "Checken?"
Tobias Tönnies: "Ich würde checken."
Robert Schulze: "Was?"
Tobias Tönnies: "Checken?!"
Robert Schulze: "Okay, ja."
Der Videobeweis darf nur in bestimmten Situationen angewendet werden. Um sicherzustellen, dass es zu keinem Verstoß gegen die Durchführungsbestimmungen kommt, muss der Delegierte den Einsatz der Videobilder genehmigen. "Wir prüfen abseits vom Ball", sagen Schulze/Tönnies zur Peter Behrens, der am Tisch sitzt. Sie wählen auf dem Bildschirm die Situation, suchen die beste Kameraperspektive heraus und bedanken sich anschließend. Auch das fällt auf - ob gegenüber den ehrenamtlichen Videoassistent am Bildschirm oder den Wischern, es wird sich bedankt.
Die Szene mit Pekeler zieht keine Bestrafung nach sich ("Unglückliche Situation, aber war nichts“, erklärt Schulze beim Rückweg auf das Feld dem Delegierten) und das Spiel geht weiter. Der Kieler muss für drei Angriffe vom Feld. "Drei runter, ja", bestätigt Tönnies auf Nachfrage und wendet sich dann wieder dem Spiel zu, bevor der Anpfiff kommt: "Alle da?"
"Schluss mit dem Mist."
Tobias Tönnies: "Offensive Deckung. 3:2:1."
Robert Schulze: "Ah, schön Bewegung."
Tobias Tönnies: "Ich kann dir jetzt am Kreis nicht helfen."
Der Vorsprung der Füchse zementiert sich in der kommenden Phase; der THW muss abreißen lassen. "Ich hab es gesehen, lass das", mahnt Tönnies das Bankverhalten des Kieler Trainers Filip Jicha in einer Unterbrechung an. Für dessen Spieler hat er kurz darauf jedoch eine Entschuldigung, nachdem er den Freiwurf nach einem Durchbruch erst verzögert zeigte. "Ich habs gesehen, ich war nur zu spät." Damit ist die Sache erledigt.
Angesichts des Spielstands werden auch die Schiedsrichter lockerer. "Du sollst früher pfeifen, Tobias, das wäre freundlich für den Torhüter, dann muss er sich weniger bewegen", gibt Schulze als Torschiedsrichter nach einem kurzen Dialog mit Dejan Milosavljev durch. "Weiß ich Bescheid", kommentiert Tönnies trocken.
Als kurz darauf ein Ball ins Aus fliegt, stellt der Magdeburger lakonisch fest: "Weg ist er." Zwischendurch schweigen die beiden auch ein, zwei Minuten, während das Spiel vor sich hin fließt. Werden sie gebraucht, sind sie jedoch weiterhin da. "Schluss mit dem Mist", fährt Schulze einen Berliner Abwehrspieler genervt an. "Sehr gut", kommt die Bestätigung von Tönnies.
Die vermeintlich gefallene Entscheidung in diesem Spiel ist gerade in der Schlussphase jedoch gefährlich. "Guter Job. Noch einmal hochfahren", ermahnt Tönnies. "Schön dranbleiben". Es ist ein Ausdruck, um gegenseitig den Fokus zu fordern. Die Formulierung, die gerade in der Schlussphase häufig fällt, haben sie sich bei einem Besuch im Kölner Keller von Fußball-Kollege Deniz Aytekin abgeschaut.
"Ein Headset ersetzt nicht die Qualität der Schiedsrichter."
Tobias Tönnies: "Dranbleiben, es ist noch nicht zu Ende."
Robert Schulze: "Stimmt."
(…)
Tobias Tönnies: "Letzte Minute!"
Robert Schulze: "Schön dranbleiben."
Der große Vorteil des Headsets liegt klar auf der Hand: Die permanente, direkte Kommunikation. So kann man gegenseitig die Entscheidungen vertreten. "Raus, raus, zwei Minuten", gibt Tönnies als Torschiedsrichter durch, Schulze als Feldschiedsrichter spricht die Strafe aus. Pfeifen auf diesem Niveau ist Teamarbeit. Auch das Ansagen der Pässe bei drohendem Zeitspiel - es zählt immer der Feldschiedsrichter - oder der Hinweis auf Einläufer kommt immer wieder vor.
Zurück zur Ausgangsfrage: Was kann das Headset leisten und wo ist die Grenze der Funk-Unterstützung erreicht?
"Der moderne Handball ist ohne den Einsatz von Headsets nicht mehr vorstellbar", sagt Jutta Ehrmann-Wolf, Schiedsrichter-Chefin des Deutschen Handballbundes. "Es ist wie der Buzzer oder der Videobeweis eine Technologie, die im Profibereich zur Unterstützung der Schiedsrichter unverzichtbar geworden ist. Entscheidend bleiben die Fähigkeiten der Schiedsrichter - ein Headset alleine macht keinen guten Schiedsrichter."
"Ein Headset ersetzt nicht die Qualität der Schiedsrichter", betont auch Tönnies. "Es hilft dir aber, das Spiel gemeinsam zu meistern und knifflige Situationen zu lösen. Und es hilft, aufkeimende Konflikte im Keim zu ersticken, bevor es eskaliert, weil man eben nicht nur eine Perspektive hat, sondern zu zweit mehr sieht."
jun