15.03.2025, 13:30
Nöte, Kritik, Privilegien, Forderungen und Ideen
Teamsport-Stelldichein in Melsungen: Wie lebt es sich eigentlich als junger Profisportler in Deutschland? Handballer Dimitri Ignatow, Hockey-Spieler Julius Hayner und Fußballer Semir Kaymakci geben einen Einblick.
Wie lebt es sich eigentlich als junger Profisportler, wenn man nicht die Aussichten hat, durch den Sport Millionen zu verdienen? Wie wichtig ist ein zweites Standbein? Wie fühlt es sich an, alles für seinen Sport zu geben, selbst wenn die breite Öffentlichkeit davon nur bedingt Notiz nimmt? Warum macht man das überhaupt? Und was sollte sich ändern?
Fragen über Fragen. Dimitri Ignatow (26, Handballprofi bei der MT Melsungen), Julius Hayner (24, Hockey-As beim Crefelder HTC) und Semir Kaymakci (20, ehemals Fußballtorwart bei der SpVgg Greuther Fürth, jetzt in einer Umorientierungsphase) trafen sich zum Meinungs- und Gedankenaustausch in den Räumlichkeiten der MT Melsungen.
Der dort für Nachwuchsarbeit und Strategien verantwortliche Vorstand Axel Renner hatte die drei jungen Teamsportler zu diesem außergewöhnlichen Brainstorming eingeladen. Das Trio hatte sich viel zu erzählen. Und mit Blick auf den deutschen Sport viel zu sagen. Ein Drei-Gespräch.
Ein kleiner Junge oder Teenager hat wahrscheinlich Träume, aber noch keine Pläne. Wann habt Ihr Euch bewusst für Leistungssport entschieden? Gab es den Moment, als Ihr merktet, es weiter bringen zu können als der Durchschnitt?
Dimitri Ignatow: Das erste Mal darüber nachgedacht habe ich bei der ersten Einladung zur Junioren-Nationalmannschaft. Da wurde mir bewusst: Okay, ich bin auf meiner Position schon einer der besten Jungs hierzulande in meinem Jahrgang.
Von da aus hat es sich entwickelt: Angefangen mit dem Angebot von Axel Renner zur MT zu kommen, über die ersten Einladungen, als Jugendlicher bei der ersten Mannschaft mit zu trainieren, bei der Zweiten zu spielen - das weckte den Glauben in mir, Handballprofi werden zu können.
Julius Hayner: Diesen besonderen Moment gab es bei mir nicht. Das hat sich von klein auf alles entwickelt und verselbstständigt. Das ist nun mal das Selbstverständnis eines Sportlers: Wenn Training ansteht, ist einfach Training. Das wird dann einfach immer mehr. Wenn du besser bist, dann hast du noch Auswahl- und Zusatztraining. All das habe ich nie hinterfragt.
Beim Training nicht pünktlich zu sein, gab’s nicht. Da musste dann als Teenager eben auch der Konfirmationsunterricht dran glauben, weil der sich 15 Minuten mit dem Training überschnitten hätte. Okay, einen besonderen Moment gab es doch: Mein erstes konkretes Ziel, die U21-WM in Indien. Einmal dort zu spielen, ist das Größte im Hockey. Da spielst du vor 25.000 Leuten. Das war die bislang unglaublichste Erfahrung meiner Sportkarriere.
Semir Kaymakci: Bei mir war es von Anfang an klar, dass ich Profi werde. Ab dem Moment, also in der U12, wo ich meinen ersten kleinen Vertrag bei der SpVgg. Greuther Fürth unterschrieben habe. Da habe ich zu meinem Dad gesagt: Bitte fahr mich dorthin, ich werde zu 100% Profi, egal was passiert. Ich wäre ja sonst gar nicht dorthin gekommen.
Dieses Selbstbewusstsein, Profi werden zu können, hatte ich unabhängig von manchen privaten wie sportlichen Höhen und Tiefen immer. Ich habe mit 16 das erste Mal bei den Profis trainiert, mit 16 auch das erste Mal Regionalliga gespielt. So nahm alles seinen Lauf.
Bei Dir hat sich inzwischen aber ein Sinneswandel eingestellt. Warum?
Semir Kaymakci: Als Jugendspieler ist dir nicht bewusst, was es überhaupt heißt, Profi zu sein. Es ist einfach nur ein Begriff. Du weißt nicht, was auf dich zukommt. In den älteren U-Mannschaften habe ich immer mehr Einblicke bekommen, wie das läuft. Dass es ein Geschäft ist. Ich habe das Profi-Dasein einige Zeit mitgemacht und mich dann entschieden, meine Fußball-Laufbahn vorerst zu beenden.
Und wie steht es mit all den Opfern, die man bringen muss? Den Verzicht?
Julius Hayner: Training ist Training und du planst dein Leben nach diesem Trainingsplan, nach dem Saisonplan - das stand für mich nie zur Debatte. Da braucht es keinen finanziellen Ansporn. Für mich ist es einfach die Selbstverständlichkeit des Sports, bis heute. Wenn du um sieben Uhr morgens im Regen Training hast, gehst du natürlich trotzdem hin. Wenn der Wecker klingelt, dann stehst du einfach auf.
Dimitri Ignatow: Wir drei mussten in der Jugend sicher schon oft verzichten, sei es auf Geburtstagspartys oder beim Weihnachtsessen. Ich weiß noch, dass ich mit der U-Nationalmannschaft immer ein Turnier vom 25.12. bis zum 5. Januar hatte. Da gab es keine Zeit für Weihnachten. Mir war schon relativ früh klar, dass man viel trainieren musste, auch zwischen den Schulstunden, und dass man auf viel verzichtet - wobei wir den Begriff Verzicht sicher alle relativieren.
Semir Kaymakci: Eigenmotivation ist wohl in unserer DNA. Wie Zähne putzen. Du machst das einfach. Du hinterfragst nicht, wann Training ist, sondern du guckst einfach auf den Plan. Du richtest alles nach dem Training. Du fragst dich nie: Gehe ich jetzt zum Geburtstag oder zum Training? Nein, du sagst: Ich habe Training. Als Kind denkst du noch nicht ans große Geld. Der Antrieb kommt woanders her. Aus dir selbst. Du willst einfach so gut und erfolgreich wie möglich sein.
Bei aller intrinsischer Motivation: Zu Begriffen wie 'Verzicht' habt Ihr also eine andere Haltung …
Julis Hayner: Genau. Wer Sport auf relativ hohem Niveau betreibt, ist anders geeicht als Nicht- oder Hobbysportler. Ich habe meinen Abiball verpasst, das war alternativlos.
Natürlich gibt es Momente, vor allem im Umgang mit Freunden, die keinen Leistungssport betreiben, die wichtig sind - für die bin ich sehr dankbar. Mein bester Freund hat nichts mit Leistungssport zu tun - das schätze ich sehr. Aber wenn der was aus seinem Leben erzählt, frage ich mich: wo ist das bei mir?
Das sind ja schon auch prägende Momente in der sozialen Entwicklung. Andererseits hatte ich Erlebnisse wie Indien oder deutsche Meisterschaften und alles was dazu gehört. Das lässt sich mit nichts aufwiegen - deswegen ist der Begriff Verzicht so schwer. Du verzichtest auf das eine, kriegst aber viel anderes geschenkt: Erfahrungen, Reisen, Emotionen, das Gemeinschaftsgefühl, das Erlebnis vor einer großen Kulisse zu spielen …
Dimitri Ignatow: … stimmt: Wenn einem die Zuschauer zujubeln - das sind Glücksmomente, die andere so ja nicht erleben. Wovon man den Leuten nur erzählen kann. Nachempfinden können sie es vermutlich nicht. Wir haben uns letztes und dieses Jahr für das Final Four in Köln qualifiziert - in einer ausverkauften Lanxess Arena. So was kannte ich eigentlich nur aus dem Fernsehen - und dann bist du auf einmal selbst mittendrin. Die Leute jubeln dir zu, rufen deinen Namen - all das können andere nicht hautnah erleben.
Aber, klar: die erzählen dir dann von Dingen, bei denen wir nicht so mitreden können, die für uns etwas Besonderes sind: Eine Silvesterparty beispielsweise. Auch für mich ist wichtig, im Trainingslager mal mit einem Freund zu telefonieren, der nicht in der Handball-Blase ist, mich inhaltlich da mal kurz rausholt und erzählt, wie sein Tag als Lehrer war. Dem du einfach mal zuhören kannst.
Habt Ihr es schon mal bereut, und sei es nur kurz, die Profilaufbahn eingeschlagen zu haben? Naheliegend wäre das ja vor allem bei Semir …
Semir Kaymakci: Nein, auf keinen Fall. Ich bereue grundsätzlich gar nichts im Leben, bin vielmehr unfassbar dankbar für alles, was ich in dieser Zeit erleben durfte. Weil es mich zu dem Menschen gemacht hat, der ich bin. Man muss immer mehr Opfer bringen, je höher es hinaufgeht. Wenn man nicht alles herausholt, gibt es einen, der das entscheidende Mal mehr oder härter trainiert. Nicht zuletzt auch schon im Jugendbereich.
Und nachdem ich Profiluft geschnuppert habe, behaupte ich auch: Für Spieler, die nicht so talentiert, aber die extrem ehrgeizig sind, ist es leichter, Profi zu werden, weil es - auch durch den gesellschaftlichen Wandel - einfach zu viele Leute gibt, die zu faul sind, um mehr zu investieren, mehr zu machen - von sich aus. Wer dazu bereit ist, erreicht letztlich mehr, selbst wenn ein paar Prozente Talent fehlen.
Julius Hayner: Da stimme ich Dir zu, Semir. Und bereuen? Nullkommanull. Es gibt zwar Momente, in denen ich mich frage: was mache ich hier? Aber das ist wohl das Schicksal jeder Randsportart: Du bist wie gesagt in deinem Sport einer der Besten in Deutschland und dann läufst du dich am 2. Januar um 18 Uhr bei Regen draußen in der Kälte warm, weil die Halle noch belegt ist.
Das musst du erdulden - dabei kann man schon mal aus dem Gleichgewicht geraten. Was mich dann wieder ausbalanciert: In meiner Mannschaft spielt der weltbeste Hockeyspieler der letzten Jahre: Niklas Wellen. Der ist auch das Gesicht des Hockeys medial gewesen in den letzten Jahren. Großartiger Typ. Der arbeitet Vollzeit, ist Familienvater und ein Ausnahmesportler - aber auch er läuft am 2. Januar bei Wind und Wetter um 18 Uhr vor irgendeiner Schulhalle mit.
Dimitri Ignatow: Würden wir etwas wirklich bereuen, würden wir es ja nicht machen. Klar, es gibt Momente, in denen man einfach mal drüber nachdenkt, ob das der Weg ist, den man gehen möchte.
Aber wenn man dann in der Halle steht mit den Leuten, die man kennengelernt hat - bei uns kommen so viele Nationen zusammen, die voneinander lernen können, mit denen man sich verausgabt, lacht, nach dem Training ein Bierchen trinkt -, weiß man, wofür man den Aufwand betreibt.
Man lebt mit all diesen Jungs, erfährt etwas über ihre Kultur, ihre Familien, man entwickelt mit ihnen ein soziales Netz, es entsteht eine Gemeinschaft - all das hat man im sogenannten normalen Leben nicht unbedingt. Das ist ein richtiger Vorteil: Der Teamgedanke, das Miteinander …
Die Sozialisierung im Mannschaftssport als Benefit …
Julius Hayner: Für uns normal. Du gehst in die Kabine rein und interagierst mit den Leuten, kennst alle, weißt, wie du sie ansprichst, wer einen schlechten Tag, wer einen guten. Teamsport verleiht dir wichtige, wertvolle Skills, die jemand außerhalb des Sports nicht unbedingt hat.
Was wir im Sport mitbekommen, können wir auch ins echte Leben übertragen. Verhalten in der Gruppe beispielsweise - vor allem, wenn dein Gegenüber auch Sportler ist. Da ist meistens direkt ein Draht, lockere Stimmung. Auch mehr Selbstbewusstsein durch den Umgang mit großen Persönlichkeiten. Man lernt auch etwas über Hierarchien.
Dimitri Ignatow: Und man weiß auch, damit umzugehen. In dem Fitnessstudio, in dem ich die Ausbildung gemacht habe, wusste ich direkt wie ich mit welchen Personen zu reden habe: Okay, der Chef ist so was wie mein Trainer, bei dem wahre ich Distanz. Wenn er sagt, du gehst jetzt runter ins Lager und machst da die Pakete auf, dann mache ich das.
Aber wenn du mit anderen Mitarbeitern zu tun hast, also quasi mit deinen Mitspielern, sorge ich für lockere Stimmung, da ist auch mal ein Spruch drin. Ich stelle manchmal fest, dass Leute, die nicht im Sport aktiv sind und Teamverhalten nicht erleben, oft nicht wissen, wie sie mit den Leuten umgehen sollen. Das ist bei uns anders. Betretenes Schweigen gibt’s unter Sportlern nicht.
Semir Kaymakci: Was du im Teamsport lernst, kannst du nirgendwo anders im Leben simulieren. Du triffst auch mal auf Leute, die du nicht magst. Aber du musst lernen, wenn du erfolgreich sein willst im Sinne der Mannschaft, mit jedem klarzukommen. Mit jedem eine Ebene zu finden. Wenn du irgendwen ausgrenzt, wirst du nicht weit kommen. Nur sind solche Prozesse oft nicht die Realität im Fußball.
Zumindest im Fußball wird man schnell zur Ware. Der Verein verdient mit einem Geld. Man ist austauschbar. Wer nicht gut genug ist und nicht mehr den Profit bringt, wird rasiert. Kann man das so sagen?
Semir Kaymakci: Ich würde differenzieren zwischen Jugend und Profibereich - das Kabinenleben ist komplett anders, so habe ich es wahrgenommen, weil auch viel mehr Geld dahintersteckt. Ich bin überzeugt: Ein harmonisches Miteinander in der Kabine ist im Profifußball generell nicht mehr selbstverständlich. Ich weiß nicht, wie es bei euch ist, aber ich kann mir vorstellen, dass es da noch harmonischer ist. Im Fußball sind falsch verstandener Konkurrenzkampf und Grüppchenbildungen signifikant.
Das mit der Ware kann ich absolut bestätigen. Das ist ein Riesenproblem im Fußball. Man wird als Ware angesehen und hat daher auch oftmals nicht das Recht, Verantwortung zu übernehmen. Die Spieler, auch die jungen, sollen Verantwortung übernehmen, höre ich immer wieder. Nur entwickelt es sich komplett in die gegensätzliche Richtung. Jungen Spielern wird sie immer mehr weggenommen, auch wenn die Vereine etwas anderes propagieren. Es ist kein faires Geschäft.
Und bei Euch, Dimitri und Julius?
Dimitri Ignatow: Der Handball ist noch nicht ganz an dem Punkt wie der Fußball, bewegt sich gefühlt leider aber immer mehr in diese Richtung. Wenn mich jüngere Spieler mal nach Rat fragen, sage ich denen: versuch es dir so vorzustellen, dass du eine Art Spielzeug bist. Und wenn der Chef, also der Sportdirektor, nicht mehr mit dir spielen will, tauscht er dich aus. Klingt jetzt krass, vielleicht überspitzt, aber letztlich bin auch ich so was wie eine Ware - und wenn ich meine Leistung nicht bringe, kann ich in zwei Jahren hier weg sein und keiner hinterfragt, ob das richtig ist.
Was unser Mitspracherecht angeht: Ich finde auch, dass es gesund ist, wenn junge Spieler Verantwortung übernehmen. Ein Bonus für Erfahrung, wenn die Leistung nicht stimmt, wäre falsch. Man muss sich die Meinung sagen dürfen, unabhängig von Hierarchien. Im Fußball, Semir, dürfte es so schwierig sein, weil es dort um viel mehr Geld geht. Die Folge: Mehr Ich-AGs als bei uns. Und mehr Fluktuation.
Julius Hayner: Dass wir zur Ware verkommen, kann ich nicht so teilen. Dafür ist Hockey dann wahrscheinlich einfach zu uninteressant in der breiten Öffentlichkeit. Bei Nationalmannschaftslehrgängen ist es ein wenig so, okay. Da wird zunächst ausschließlich auf Leistung geachtet, das erzeugt Drucksituationen. Und dabei kann das Gefühl der Austauschbarkeit entstehen. In meinem Verein war ich immer in der komfortablen Lage, dass ich eingewinkt werde in die Prozesse, nicht benutzt.
Lasst uns über Wertschätzung sprechen. König Fußball regiert die Welt. Ist das unfair?
Julius Hayner: Ich finde es fair, denn so ist nun mal der - freie - Markt: Angebot und Nachfrage. Das Interesse am Fußball ist größer. Ich bin der Letzte, der jammert. Ich habe bei den 'Deutschen' vor 5.000 Leuten gespielt, das war für mich mega. Wenn es 50.000 wären, wäre es noch geiler. Und wenn es jedes Wochenende so wäre, wäre es auch super. Aber ich bin sehr glücklich mit dem, was ich tue und ich bin auch nicht neidisch.
Nur fühle ich mich im Vergleich zu Fußballern nicht ausreichend wertgeschätzt. Was wir tun ist gleich viel wert: Aufwand, Energie, Verzicht. So gesehen ist der unterschiedliche Ertrag immens. Schade, wenn die gesellschaftliche Wertschätzung derart fehlt. Wir haben nur unsere Community.
Nach Highlight-Events, besonders wenn sie atmosphärisch und emotional aufgeladen sind, falle ich in ein unfassbares Loch. Draußen fragt Dich kurz darauf schon keiner mehr, es interessiert niemanden. Diese fehlende Wertschätzung empfinde ich als schlimm.
Das ist ja - übersetzt - auch eine Art Anonymität. Wie ist das bei Dir, Dimitri?
Dimitri Ignatow: Ich kann mich schon frei in Kassel und Melsungen bewegen. Handball, auch in der 1. und 2. Liga, wird oft abseits der Metropolen gespielt, da ist das mit der Anonymität relativ. Nach Erreichen des Final Four hat man überall in Melsungen und Kassel die Poster von uns gesehen. Auch vor der Halle hängen jetzt welche - wenn ich dran vorbeifahre, mit meinen Eltern, denke ich: das ist schon krass.
Julius Hayner: Ist das ein schönes Gefühl?
Dimitri Ignatow: Das ist ein superschönes Gefühl, ja. Die Wertschätzung nimmt zu und das ist schon etwas Besonderes. Nicht wie im Fußball, aber die Richtung ist erkennbar. Dass auch der mediale Wert steigt. Inzwischen ist das Finanzielle ein Bonuspunkt. Aber die Wertschätzung ist schon auch sehr wichtig.
Semir Kaymakci: Man macht es für den Verein, die Mannschaft und die Fans - aber letztlich macht es jeder für sich selbst, denn es ist immer noch ein Job. Ich kann Julius voll verstehen. Obwohl ich aus dem Fußball komme.
Was ich zu dem Loch sagen kann, das er beschreibt: Dadurch, dass der Fußball so viel Bildfläche bekommt und viele Spieler extrem viel Aufmerksamkeit erhalten, ist die Zahl derer, die auch in Loch fallen, vermutlich groß.
Anerkennung ist toll und Ihr beide habt viel mehr davon verdient durch die Öffentlichkeit. Ihr könntet damit sicher auch umgehen. Aber im Fußball wiederum schadet Anerkennung, also auch wirtschaftliche, vielen eher - ihrer Leistung und wie sie mit anderen umgehen.
Einen anhaltenden Medien-Hype gibt es nur im Fußball. In den anderen Sportarten ist er temporär. Olympische Spiele sind ein gutes Beispiel. Die European Championships olympischer Sportarten sind sehr beliebt, doch das Interesse endet mit dem Event.
Semir Kaymakci: Wenn euer Sport mehr gezeigt würde, würdet ihr natürlich mehr Sponsoren, mehr Geld und mehr Anerkennung bekommen. Betrachtet man die Leistung, die jeder einzelne von Euch erbringt, ist es ungerecht, wenn eben manche Sportarten so wenig Aufmerksamkeit bekommen.
Dimitri Ignatow: Julius, Ihr seid die erfolgreichste Mannschaftssportart bei Olympia überhaupt, und medial völlig unterrepräsentiert. Das Problem ist, dass speziell die öffentlich-rechtlichen Sender, die eigentlich den Auftrag haben, ausgewogen zu berichten, dem nicht so gerecht werden.
Julius Hayner: Die Verhältnismäßigkeit stimmt nicht. Niemand verlangt, dass jedes Hockey-Bundesligaspiel übertragen wird, dafür ist die Nachfrage schlichtweg zu gering. Man kann aber auch Nachfrage schaffen und da sehe ich die öffentlich-rechtlichen Sender mehr in der Verantwortung.
Die Olympischen Spiele sind ein gutes Beispiel: Die Leute interessieren sich für andere Sportarten und Athleten, wenn sie ihnen präsentiert werden. Ich finde, in diesen Sportarten gibt es auch die viel geileren, persönlicheren Geschichten als im Fußball. So nehme ich das Feedback rund um diese Turniere auch wahr. Die Begeisterung verpufft danach aber genauso schnell, weil der Zuschauer einfach keinen Kontakt mehr hat.
Von Hockeyseite wird viel getan in Richtung Öffentlich-Rechtliche. Vielleicht muss man es mal ernsthaft probieren, damit man zumindest mal messbare Ergebnisse hat - und bei Olympia nicht zum Frauenfußball-Spiel umschalten, wenn andere gerade parallel um Medaillen kämpfen.
Dabei darf dann der Return-of-Invest nicht in erster Reihe stehen. Ich bin privilegiert, weil ich in einem Verein spiele, dessen Mäzen sich nicht für einen Return-of-Invest interessiert. Es gibt aber auch zahllose andere Beispiele, vor allem in Einzelsportarten. Dort wird oft bis zur Erschöpfung trainiert. Ohne die nötige Unterstützung. Das steht in keinem Verhältnis und ist total unfair.
Laut Studien bekommt der Fußball ein demografisches Problem. Ein Generationsproblem und ein Problem mit dem Konsumverhalten junger Menschen. Tun eure Sportarten genug dafür, hiervon zu profitieren? Sind eure Funktionäre so modern aufgestellt, das zu nutzen?
Julius Hayner: Ich würde dem Hockey-Verband weltweit und auch in Deutschland schon unterstellen, dass sie vorwärtsgewandt sind. Es gibt Überlegungen zu neuen Spielformen, von elf auf fünf Spieler pro Team auf dem Feld. Auch der Videobeweis ist ja etwas, was im Hockey seit Jahren funktioniert. Hockey ist dennoch eine Sportart, die alle vier Jahre vom Aussterben bedroht ist. Sobald wir nicht mehr bei Olympia sind...
Dimitr Ignatow: Die Diskussion gibt’s bei uns auch: Bleibt Handball olympisch? Die Zuschauerzahlen bei der jüngsten WM waren nicht ermutigend. Plakativ gefragt: Stirbt der Handball aus? Ich habe das Gefühl, die Entscheider sind zu bequem. Die sagen sich: Es hat doch alles funktioniert. Warum sollen wir was ändern? Das wäre zu viel Arbeit und man weiß nicht, ob es erfolgreich ist. Die trauen sich nichts. Schon gar nicht finanziell.
Ich bin zum Beispiel leidenschaftlicher Zocker - aber es gibt bis heute kein Handballgame. Handball ist sehr schnell, das mag eine Herausforderung bei der Simulation sein. Aber wenn man das im Basketball und Eishockey hinbekommt, muss das doch auch in unseren Sportarten möglich sein. Dieser Zugang könnte uns so viele neuen Zuschauer und Interessenten bringen. Eine komplette Generation als Markt!
Hätte ich was zu sagen, würde ich da viel mehr machen - den Nachwuchs immer im Blick. Stattdessen diskutieren wir darüber, ob wir nicht mehr mit Harz spielen dürfen. Es fehlt der Mut, mal was auszuprobieren, es herrscht noch zu viel Traditionsdenken.
Bob Hannig fordert Weltmeisterschaften in Ländern, in denen Handball erst erschlossen werden muss. Natürlich können solche Experimente in die Hose gehen, aber man muss es doch mal versuchen. Handball in Amerika - warum nicht? Die US-Profiliegen spielen doch auch in Asien und Europa aus PR-Zwecken. Ich erwarte nicht gleich, dass wir gegen den THW Kiel in Washington spielen - aber bei WM-Turnieren sollte man viel globaler denken.
» Weltverband schlägt Alarm: Droht dem Hallen-Handball das Olympia-Aus?
Ihr seid alle drei in einem Alter, in dem Ihr noch was verändern könnt. Habt Ihr Lust dazu?
Semir Kaymakci: Ich fühle sogar eine innerliche Verpflichtung dazu. Die Mehrzahl unter uns Sportlern hat mehr Ahnung als die sogenannten Schreibtischtäter, weil wir einfach exklusiven Einblick haben. Die Aktiven wissen, was verändert werden kann und muss, aber die werden gar nicht gefragt. Sie haben keine Stimme.
Gebt sie uns. Fragt uns: Was läuft in unserem Verein falsch? Wie seht ihr den Verband? Wie den Sport generell? Hört, was wir zu sagen haben - und belächelt nicht unsere Meinung. Es ist immer die Rede von mündigen, authentischen Sportlern - es gibt sie. Bindet sie ein. Blickt über den Tellerrand und in die Zukunft. Viele Entscheider denken nur kurzfristig. Speziell im Fußball. Verstärkt durch die finanzielle Power, die es dort nun mal gibt.
Ich würde versuchen, mehr Ehrlichkeit und Menschlichkeit reinzubringen … Und, ganz wichtig: Die Aktiven sollten nicht nur sportlich besser werden, sondern den nötigen Freiraum und die Unterstützung erhalten, sich persönlich weiterzuentwickeln, besonders die ganz jungen.
Helft ihnen, Antworten auf die wichtigen Fragen im Leben zu finden. Das steigert auch ihre Leistungsfähigkeit. Persönlichkeitsentwicklung ist super-wichtig, kommt aber zu kurz. Fußballprofis sind immer auch Menschen. Und genau so sollten sie wertgeschätzt werden. Stattdessen leitet das Business unseren Sport.
Julius Hayner: Wenn ich das höre, bin ich ganz froh in meiner Nische, in meiner Sportart, weil da der Sport im Vordergrund steht. Ich würde dennoch jederzeit mein Randsportlerleben in ein Profisportlerleben tauschen. Nur das sage ich natürlich auch in Unkenntnis des Alltags eines Profis.
Was du da gerade gesagt hast, Semir, ist für mich so befremdlich im Vergleich zu meiner Sportart Hockey, weil man uns dort nur unterstützt. Weil wir als Mensch zählen und den Verantwortlichen etwas an uns liegt. Mein Apell in Richtung Wertschätzung ist eher gesellschaftlich, systemkritisch. Mir kommt der Sport, speziell der Spitzensport hierzulande zu kurz.
Dimitri Ignatow: Ich glaube, am Ende des Tages geht es den Funktionären natürlich schon auch um ihre Posten. Warum auch sollte jemand etwas von seinem Schreibtisch aus verändern, wenn es in seinem Alltag funktioniert, wenn er von Gegebenheiten im hier und heute profitiert? Man muss schon verstehen, dass deren Risikobereitschaft Grenzen hat. Ist, glaube ich, menschlich.
Cool wäre aber, wen sie sich öffnen für neue, frische Argumente und Ideen - so wie das hier jetzt angeklungen ist. Ich jedenfalls würde versuchen, das Internet besser zu erschließen. Jüngere, altersgerechtere Online-Plattformen anzubieten, abseits des normalen Fernsehens, weil viele junge Leute das gar nicht mehr nutzen.
Inzwischen vermarkten etliche Sportlerinnen bei Onlyfans ihre Haut, weil ihnen das nötige finanzielle Zubrot fehlt, ihrer Sportart auf hohem Niveau nachgehen zu können. Die bezahlen davon ihre Ausrüstung oder ihr Trainingslager. Ist Deutschland noch eine Sportnation?
Julius Hayner: Historisch gesehen auf jeden Fall, aktuell gerade noch so, wenn es so weitergeht in Zukunft wahrscheinlich nicht mehr. Es müsste eigentlich Aufgabe des Staates, des Bundes oder des zuständigen Ministeriums sein, adäquate Förderung bereitzustellen. Stattdessen müssen Sportlerinnen ihre Haut zu Markte tragen, Sportler nebenbei noch arbeiten und ihr Equipment selbst anschaffen. Die Frage lautet: Was ist es dem Staat oder der Gesellschaft wert?
Als Sportler wird es dir in Deutschland nicht gerade leicht gemacht, deiner Passion nachzugehen. Man schmückt sich gerne mit den Erfolgen, tut aber nichts dafür und wundert sich, dass sie ausbleiben. Dann macht man wieder eine Abrechnung nach Olympia und sagt: viel zu wenig Medaillen.
Ein einziges College in Amerika hat mehr Fördermittel als der gesamte DOSB. Du träumst von Weltklasse, kannst aber froh sein, dass es überhaupt Sportlerinnen und Sportler gibt, die es aus eigener Motivation dahin schaffen. Wenn Deutschland eine Sportnation bleiben will, muss Sport wieder einen anderen Stellenwert bekommen und mehr Geld in die Förderung fließen. So wie es in Deutschland ist - 15.000 Euro für eine Goldmedaille und 100.000 Euro für den Dschungelkönig, überspitzt formuliert -, ist es absolut nicht gerecht.
Dimitri, Du hast bei der MT das Glück, eine Struktur vorgefunden zu haben, in der du auch eine Ausbildung machen konntest. In der vieles für die Spieler organisiert wird. Stell dir mal vor, du wärst Individualsportler und müsstest dein eigenes Trainingslager finanzieren …
Dimitri Ignatow: Dann müsste ich mir auch überlegen, ob ich diesen Weg überhaupt so bedingungslos gehen kann - gegen alle Widerstände. Selbst wir als Teamsportler haben ja noch mit Widrigkeiten zu kämpfen. Wenn ich nur an die USA denke, an NBA, NHL usw. - da sind optimale Vorbereitung und Körperpflege Standard - die Behandlung von zwei Physios zum Beispiel.
Die Leute denken bestimmt, bei uns ist das auch alles so. Ich aber bin froh, wenn ich überhaupt mal eine Physio-Stunde bekomme. Oder einfach mal in die Halle gehen und eine Stunde auf Körbe werfen. Bei uns undenkbar. Wenn ich Wurftraining machen will, außerhalb unserer Einheiten, muss ich Stadt oder Schulleitung fragen, ob das geht, ob die Halle offen ist. Oder ich will in den Kraftraum - das muss ich auch erst abklären.
Das College-System dort ist schon cool. Die haben alle Privilegien, die es hier nicht gibt. Schon aufgrund der Infrastruktur. Meine Mama hat mir Brote geschmiert für den Tag und wir haben uns draußen in der Kälte aufgewärmt vor dem Training. Dort wählt man in der Mensa auf dem Campus ein Gericht aus, dann geht’s ins Gym mit allem Drum und Dran. In Deutschland wird der Sport nicht nur vergleichsweise schlecht gefördert, es werden ihm eigentlich noch Steine in den Weg gelegt.
Julius Hayner: Stimmt. Spitzensportler werden in unserem Fördersystem ja eher noch dafür bestraft, dass sie sich neben dem Sport, in dem sie Deutschland repräsentieren, ein Leben aufbauen und finanziell zusätzlich für die Zeit nach der Karriere sorgen. Das ist einfach ein spitzensportfeindliches Klima.
Da wäre der Auftrag, übergeordnet zu sagen: Sport muss wieder eine viel größere Wertschätzung haben. Gerade Nachwuchssportler bräuchten hierfür in Deutschland eine Stimme. Nicht nur die etablierten Aktiven, nicht nur die Funktionäre, sondern junge Sportler wie wir, die noch nicht ausgesorgt, die aber schon wichtige Erfahrungen gemacht haben.
Keine wichtige News aus dem Handball mehr verpassen?
» Briefing von handball-world als Newsletter abonnieren!
aufgezeichnet von Stefan Backs und Frank Schneller