11.11.2024, 08:30
7 Geschichten von Zweifel, Frust und Enttäuschung - und Schicksal, Zuspruch und Rückendeckung (Teil 1)
Für den "Tag des Schiedsrichters" erzählen sieben Schiedsrichter aus dem Deutschen Handballbund von einem Moment, in dem sie mit ihrem Hobby gezweifelt, gekämpft oder gehadert haben - und warum bzw. wie sie trotzdem weiter zur Pfeife gegriffen haben.
"Wir haben kein Problem mit der Schiedsrichtergewinnung, wir haben ein Problem damit, Schiedsrichter zu halten": Hört man sich an der Basis um, stößt dieser Satz meist auf zustimmendes Nicken. Wenn alle frisch ausgebildeten Schiedsrichter:innen über mehrere Jahre dabei bleiben würden, gäbe es keinen Schiedsrichter-Mangel.
Doch die Abbrecher-Quote im ersten Jahr ist hoch, zu hoch. Neue Unparteiische zweifeln an dem Hobby, weil sie bereits in den ersten Monaten schlechte und/oder harte Erlebnisse haben, weil sie sich alleine gelassen fühlen oder zweifeln, ob es wirklich der richtige "Job" für sie ist. Und viele, zu viele, hängen die Pfeife wieder an den Nagel.
Mit ihren Erfahrungen sind sie jedoch nicht alleine. Für den "Tag des Schiedsrichters" erzählen sieben Schiedsrichter aus dem Deutschen Handballbund von einem Moment, in dem sie mit ihrem Hobby gezweifelt, gekämpft oder gehadert haben - und warum sie trotzdem weitergemacht haben bzw. wie sie damit umgegangen sind.
Im ersten Teil erzählen Steven Heine und Jörg Loppaschewski aus dem Elitekader, Jonas Konrad aus dem Elite-Anschlusskader und Denis Seidler aus dem Nachwuchskader von ihrer Erfahrung. Um 16:30 Uhr folgt der zweite Teil mit Philipp Dinges (Elitekader), Felix Henker (3. Liga) und Marvin Völkening (Bundesligakader).
Steven Heine (40) pfeift gemeinsam mit Sascha Standke im Elitekader
Ich habe immer davon geträumt, irgendwann einmal in der Kieler Arena zu pfeifen, doch lange hat es nicht danach ausgesehen. Meine Karriere ist immer wieder ins Stocken geraten, Sascha ist schon mein vierter Schiedsrichterpartner. Ich habe erst zusammen mit meinem besten Freund angefangen, der wollte sich dann jedoch aufs Spielen konzentrieren. Der nächste Partner konnte das Pfeifen nach dem Aufstieg in die Oberliga nicht mehr mit seinem Beruf vereinbaren.
Die bitterste "Trennung" war die von meinen dritten Gespannpartner. Wir standen auf dem ersten Platz im Kader und sollten in die Regionalliga aufsteigen, dafür mussten wir beim Lehrgang nur noch den Lauftest bestehen. Mein Gespannpartner hat bei der Prüfung geschummelt - er ist nur fünf statt sechs Runden gelaufen und hat behauptet, er hätte die komplette Distanz absolviert.
Das ist natürlich aufgefallen und der Schiedsrichterchef sagte nur: "Mit dem zusammen steigst du nicht auf." Ich war 24 Jahre und der Schritt in die Regionalliga wäre ein so großer Schritt gewesen - und wegen so einer dummen Schummelei war alles vorbei. Ich habe mich machtlos gefühlt; es war das dritte Mal, dass die Karriere ohne mein Verschulden zum Stillstand kam.
Wenn wir sportlich während der Saison nicht aufgestiegen wären, hätte ich meinen Anteil gehabt, aber so? Das hat wahnsinnig an mir genagt - vor allem, weil wir noch gemeinsam für den Lauftest trainiert haben. Ich habe mir in dem Moment gedacht: Es soll wohl einfach nicht sein. Ich war kurz davor, die Pfeife wegzulegen.
Dass es dann doch weiterging, war (davon bin ich überzeugt) Schicksal. Denn nachdem mein Gespannpartner nach dem Lauftest-Desaster abgereist ist, war ich alleine auf dem Lehrgang - genauso wie Sascha, dessen Gespannpartner wenige Wochen zuvor verstorben war. Die Verantwortlichen haben uns damals nebeneinander auf eine Bank gesetzt und Sascha hat mich gefragt: "Was ist dein Ziel? Was willst du erreichen?" Ich habe gesagt: "Ich will in die Kieler Ostseehalle." Seine Antwort: "Dann bist du mein Mann."
Wir haben es wirklich geschafft. 2020, zehn Jahre nach dem Gespräch auf der Bank, waren wir das erste Mal in Kiel. Sascha zu finden, ist das Beste, was mir als Schiedsrichter passieren konnte.
Jonas Konrad (32) pfeift gemeinsam mit Marvin Cesnik im Elite-Anschlusskader
In den ersten Jahren haben wir nicht darüber nachgedacht aufzuhören, da wir vom ersten Tag ausschließlich im Gespann unterwegs waren - und somit nicht alleine waren - und in der ersten Saison wirklich bei jedem Spiel durch unseren Handballkreis betreut wurden.
Der bisher größte Moment des Zweifels war für uns nach dem Aufstieg in die Jugendbundesliga. Im Vergleich zu den anderen Gespannen waren wir nicht gut; oder man könnte auch sagen: Richtig schlecht. Das Feedback der Coaches und Vereine war am Anfang sehr negativ und es wurde klar kommuniziert, dass wir eine erhebliche Leistungslücke zu füllen haben.
Wir haben uns dann intensiv gefragt, ob das Pfeifen im Deutschen Handballbund mit den längeren Fahrten und dem hohen Anspruch wirklich das Richtige für uns ist. Wir haben miteinander viel über unsere persönlichen und gemeinsamen Ziele gesprochen und unsere Erwartungen abgeglichen. Wir haben uns eine erfahrene Vertrauensperson gesucht, die uns unterstützt und aufgebaut hat, wenn es nicht gut lief.
Es war ein harter Prozess, in dem wir irgendwann auch unsere Ziele angepasst haben. Wir haben gelernt, dass es nicht schlimm ist, wenn man an eine Leistungsgrenze kommt und ggf. etwas länger braucht, um sich in einer neuen Liga oder gegenüber neuen Mannschaften zu etablieren. Und was uns unheimlich geholfen hat: Abstand zum Pfeifen.
Das wäre unser klarer Tipp an alle (jungen) Schiedsrichter: Wenn es mal nicht so gut gelaufen ist, schaut nicht direkt auf der Rückfahrt das Video oder lest Kommentare auf Social Media oder den Vereinswebseiten, sondern nehmt euch mal eine kurze Pause vom schönsten Hobby der Welt.
Denis Seidler (27) pfeift gemeinsam mit seinem Bruder Dustin im Nachwuchskader
Den einen großen Moment, in dem wir am Pfeifen wirklich gezweifelt haben, gab es (noch) nicht - es gab eher viele kleine Momente, in denen wir aus verschiedenen Gründen gefrustet waren. Wir haben uns nach schlechten Pfiffen oder Spielen über uns selbst geärgert oder an Kommentaren von Spielern, Trainern oder Zuschauern genagt.
In solchen Augenblicken sind die Rückfahrt und vielleicht auch die Spielnachbereitung einfach doof, aber inzwischen wissen wir, dass auf den Frust immer wieder Momente folgen werden, die Spaß bereiten. Es gibt so viele positive Menschen im Handball, die einen aufbauen und unterstützen. Wir haben nach einem schlechten Spiel am nächsten Wochenende in der nächsten Halle einen Kumpel getroffen, der uns zugehört hat und dann sagte: "Ist doch gar nicht so schlimm." Das hilft.
Und auch, wenn es sich für den ein oder anderen manchmal vielleicht so anfühlen mag: Als Schiedsrichter ist man nie alleine. Wir haben im Gespann natürlich uns, aber auch viele Kollegen sind bereit, zuzuhören, wenn es eine blöde Situation gab. So ein Austausch ist immer ein Lichtblick. Und Familie und Freunde sind natürlich auch noch da.
Was die Frustmomente auf dem Spielfeld angeht, haben wir inzwischen eine Methode gefunden. Als Schiedsrichter weiß man oft ein oder zwei Sekunden nach dem Pfiff schon, dass es ein Fehler war, aber man kann es nicht ändern. Gino Smits hat uns mal erzählt, dass er seinen Spielerinnen den "imaginären Rucksack" beibringt - wenn sie einen Fehler machen, sollen sie diesen in den Rucksack legen, damit sie ihn für diesen Moment nicht mehr festhalten müssen. Dieses Bild hilft uns extrem, blöde Situationen schnell abzuhaken. "Pack's in den den Rucksack": Das sagen wir uns über das Headset und dann wird nicht mehr darüber gesprochen.
Jörg Loppaschewski (52) pfeift gemeinsam mit Nils Blümel im Elitekader
Als ich mit dem Pfeifen angefangen habe, lief das noch anders ab. Man wurde auch als junger Schiedsrichter sehr schnell bei den Erwachsenen eingesetzt; auch mal in einer höheren Liga. So habe ich mit 16 oder 17 Jahren die ersten Spiele in der damaligen Regionalliga Berlin geleitet. Das war nicht günstig, aber darauf wurde damals keine Rücksicht genommen.
Es gab in der Regionalliga ein paar Alt-Internationale, die ihre Karriere sportlich ausklingen ließen - und einen jungen Schiedsrichter wie mich bei jedem Pfiff auseinandergenommen haben. "Geh in den Kindergarten zurück und lass uns hier Handball spielen": Diesen Spruch werde ich mein Leben nicht vergessen.
Jeder Freiwurf-Pfiff war für sie falsch, sie haben alles hinterfragt. Und irgendwann fängst du an zu zweifeln und denkst dir: Wenn dir ständig gesagt wird, dass du alles falsch machst - haben sie nicht vielleicht recht? Und ist es das bisschen Taschengeld wirklich wert, sich so anmachen zu lassen?
Dass ich durchgehalten habe, ist unter anderem dem Zuspruch meines damaligen Trainers zu verdanken. Er hat mir Rückendeckung gegeben und gesagt: Schiedsrichter machen genauso Fehler wie Spieler, das ist normal - lass dich nicht verrückt machen. Wenn du einfach weitermachst und deine Linie durchziehst, werden sie dich irgendwann akzeptieren und aufhören - und so ist es tatsächlich gekommen.
Solche Erlebnisse hat man als Schiedsrichter immer wieder. Ende der Neunziger, wir waren inzwischen in der Bundesliga angekommen, gab es beim TuSEM Essen einen Spieler, der bei jedem Siebenmeter zum Schiedsrichter kam und nach dem Grund gefragt hat. Die älteren Kollegen haben uns geraten: Reagiert gar nicht darauf oder sagt klipp und klar: "Sie wissen genau, warum das ein Siebenmeter war." Geht aber bloß nicht auf die Frage ein, sonst belabert der euch die ganze Zeit.
Dieses Austesten, was gerade junge Schiedsrichter oder Aufsteiger in einer neuen Liga aushalten müssen, ist normal. Wir machen als Schiedsrichter genauso Fehler wie die Spieler auch - nur haben wir keine Fans auf der Tribüne, die uns trotzdem unterstützen. Wenn ich heute auf Lehrgängen an der Basis in Berlin zu Gast bin, versuche ich den Teilnehmern immer zu vermitteln, dass sie sich davon bloß nicht den Spaß am Pfeifen verderben lassen sollen.
Unsere Aufgabe ist eine tolle Sache und für viele junge Schiedsrichter auch ein wichtiger Baustein in ihrer Persönlichkeitsbildung. Ich erzähle manchmal auch meine Geschichte. Sie sollen sehen, dass wir auch als Bundesliga-Schiedsrichter noch genau wissen, wo mir herkommen - und durchaus nachvollziehen können, womit sie zu kämpfen haben.
jun