19.01.2025, 14:20
Kämpfer wird 71
Joachim Deckarm feierte seinen 65. und seinen 70. Geburtstag jeweils in ganz großer Runde in Köln, bei der Handball-WM 2019 und 2024 war er bei den Spielen des DHB-Teams jeweils in der Arena und wurde von dieser gefeiert. Auch an seinem heutigen 71. dürfte sich der Jubilar mit Handball beschäftigen, Deutschland spielt in der WM-Vorrunde - allerdings diesmal in Herning und nicht vor seiner Haustür.
Im ersten Leben seines Freundes Joachim Deckarm habe ihn begeistert, "wie er sich als Star verhalten hat. Er hatte immer großen Respekt vor seinen Mitspielern. Das ist nicht gewöhnlich bei Spielern mit besonderen Fähigkeiten", lobte Brand anlässlich des 65. Geburtstages des überragenden Handballers seiner Zeit und 78er-Weltmeisters vor sechs Jahren.
Dann kam der 30. März 1979 und dieser veränderte das Leben von Joachim Deckarm: Beim Europacupspiel mit dem VfL Gummersbach im ungarischen Tatabanya knallte der damals 25-jährige Rückraumspieler nach einem unglücklichen Zusammenstoß mit Lajos Pánovics mit dem Kopf auf den Betonboden, der nur mit einer dünnen PVC-Schicht belegt war. Die Folge: ein doppelter Schädelbasisbruch, ein Gehirnhautriss und schwere Gehirnquetschungen.
Spieler und Betreuer tragen ihn vom Feld, Joachim Deckarm fällt ins Koma. Heiner Brand, der die fürchterlichen Ereignisse mitansehen muss, sprach vom "Schlimmsten", was er in seiner Karriere erlebt habe. Den Unfall habe er "eigentlich nie so richtig verdaut", so der Gummersbacher, der - nach dem gemeinsame WM-Titel mit Joachim Deckarm - als Trainer mit dem DHB-Team diesen Erfolg 2007 wiederholen konnte.
Auf dem Feld aber stand auch Heiner Brand im Schatten von Joachim Deckarm: Schon in jungen Jahren hatte der Rückraumspieler große Erfolge gefeiert und war einer der weltbesten Handballer seiner Zeit. Mit dem VfL Gummersbach wurde er dreimal deutscher Meister und zweimal Europacupsieger. In 104 Länderspielen warf er 381 Tore.
Höhepunkt seiner viel zu kurzen Laufbahn war aber der WM-Triumph 1978 in Dänemark, der längst zum Mythos im deutschen Sport geworden ist. "Mir war sehr schnell klar, dass wir etwas Großes erreicht hatten", sagte Joachim Deckarm einmal über seinen größten Erfolg. 2013 wurde er in die "Hall of Fame" des deutschen Sports aufgenommen.
Dann kam der Unfall: 131 Tage lag Joachim Deckarm im Koma. Als er aufwachte, musste er praktisch alles neu erlernen. "Depressionen habe ich nie gehabt", erklärte der seit jenem 30. März 1979 auf Pflege angewiesene Deckarm einmal.
Er kämpfte sich zurück. Und bis heute ist die Handball-Familie für Deckarm neben seinem sechs Jahre älteren Bruder Herbert der wichtigste Bezugspunkt. Regelmäßig ist er bei den Bundesligaspielen des VfL Gummersbach zu Gast oder empfängt ehemalige Mitspieler und Freunde im Seniorenheim.
Seinem Gegenspieler hat der begnadete Techniker, der damals als bester Handballer der Welt galt, nie einen Vorwurf gemacht. Im Gegenteil. "Wir beide wissen, dass der Zusammenprall keine absichtliche Aktion war. Dennoch hat ihn das Unglück seelisch tief getroffen", sagte Joachim Deckarm einmal in einem Interview des Magazins "Handball Inside". Die beiden hatten sich zehn Jahre danach erstmals getroffen und wurden dann Freunde.
Für eine Dokumentation reiste Joachim Deckarm 2014 nach Tatabanya, traf vor Ort den am damaligen Unfall völlig schuldlosen Lajos Panovics. Heiner Brand, der ihn begleitete, berichtete, dass es "einmal mehr emotional bewegend" für alle Beteiligten war. "Wir waren auch in der Halle und in der Umkleidekabine, Lajos erklärte noch einmal wie und wo es passierte - die Erinnerungen von damals aber tun der Freundschaft zwischen Joachim und Lajos keinerlei Abbruch."
Erinnerungen an den Tag, der sein Leben auf dramatische Weise veränderte, hat Joachim Deckarm nicht. Und auch die Videobilder von dem tragischen Unfall, der seine Karriere auf brutale Weise vorzeitig beendete, hat sich der einst weltbeste Handball-Spieler und Weltmeister von 1978 aus Selbstschutz nie angeschaut.
Seinen Lebensmut hat Joachim Deckarm durch den Schicksalsschlag nie verloren. Sein Lebensmotto lautete stets: "Ich will, ich kann, ich muss." Trotz der erheblichen Einschränkungen konstatierte er 2014 zu seinem 60. Geburtstag: "Ich glaube, dass ich ein gutes Leben führe."
Nachdem er viele Jahre in Saarbrücken lebte - erst im Elternhaus bei seiner Mutter, nach deren Tod dann in einer Betreuungseinrichtung -, zog Deckarm Ende 2018 nach Gummersbach in ein Seniorenheim um. Längst kann er sich nur noch im Rollstuhl fortbewegen. Seine Lebens- und Leidensgeschichte ist in dem Benefiz-Buch "Teamgeist - Die zwei Leben des Joachim Deckarm" beschrieben.
Seinen langjährigen Wegbegleiter Heiner Brand hat stets vor allem Deckarms Kampfgeist beeindruckt. "Er hat nie nachgelassen", sagte der Weltmeister-Trainer von 2007 über Joachim Deckarm.
Den 65. feierte der Jubilar gemeinsam mit seinen früheren Teamkollegen beim WM-Hauptrundenspiel der DHB-Auswahl gegen Island in Köln, wo ihm 19 000 Fans ein bewegendes Ständchen sangen. "Er steht für viele, die ein ähnliches Schicksal haben, als Vorbild da. Von ihm kann man sich inspirieren lassen", sagte Deckarms Weltmeister-Kollege Manfred Freisler in einer Doku im ZDF.
2024 wiederholte sich die große Geburtstagfeier bei der Handball-EM zu seinem 70. Den eigentlichen 70. Geburtstag hatte Joachim Deckarm im Januar im kleinen Kreis mit Familie und Freunden verbracht, am Tag danach gab es die große Party mit 20.000 Gästen.
Trotz gesundheitlicher Sorgen. "Bedingt durch den Unfall kommen die Alterserscheinungen bei ihm stärker zum Tragen", sagte Deckarms langjähriger Freund und Wegbegleiter Heiner Brand der Deutschen Presse-Agentur.
Dass er seinen runden Geburtstag noch erleben durfte, ist ein Geschenk. Denn nach einem mehrwöchigen Krankenhaus-Aufenthalt während der Corona-Zeit ist sein Körper geschwächt. Medizinisch gesehen geht es ihm wieder besser, doch die Zeit ohne Gymnastik und Reha und vor allem ohne Besuch macht ihm bis heute schwer zu schaffen.
"Das Gefühl, das noch erleben zu können und vor 20.000 Menschen mit den Jungs auf das Spielfeld zu gehen, ist ein Traum für mich", sagte Joachim Deckarm vor dem Termin bereits mit großer Vorfreude. Beim Beantworten der Fragen im SID-Gespräch anlässlich seines 70. Geburtstags wurde er von seinem Bruder Herbert unterstützt, betonte aber mit Blick auf den EM-Tag in Köln: "Da würde ich am liebsten aus meinem Rollstuhl springen und 'Juhu' schreien."
cie mit Material dpa und sid sowie Frank Schneller