13.06.2024, 17:04
Videobeweis, neuer Medienpartner und Problemfeld Bankverhalten:
Schiedsrichter-Chefin Jutta Ehrmann-Wolf (60) zieht im Interview eine Bilanz von der Saison 2023/24. Sie spricht über den Videobeweis sowie den neuen Medienpartner und stellt mit Blick auf das Bankverhalten klar: "Es kann es nicht sein, dass der ganze Frust auf die Schiedsrichter transportiert wird."
Frau Ehrmann-Wolf, die Saison 2023/24 hat einige Veränderungen wie den Videobeweis und einen neuen Medienpartner mit sich gebracht. Wie fällt Ihre Bilanz aus?
Jutta Ehrmann-Wolf: In Summe ziehe ich ein positives Fazit; auch, wenn es eine sehr herausfordernde Saison für alle Beteiligten war. Der Videobeweis war natürlich die große Neuerung, aber auch das richtige Händchen bei der Besetzung der Spiele war eine ständige Herausforderung.
Dass in Schulze/Tönnies und Kuttler/Merz zwei deutsche Schiedsrichter-Teams zu den Olympischen Spielen fahren, ist für das Schiedsrichterwesen des Deutschen Handballbundes ein historischer Erfolg und unterstreicht unsere internationale Stellung. Diese Tatsache freut mich sehr für unsere vier Top-Schiedsrichter:innen, dass sie mit diesen Nominierungen für ihre Leistung ausgezeichnet werden.
Wie fällt Ihr Fazit mit Blick auf den Videobeweis?
Wir können zufrieden mit der ersten Saison sein. Wir haben einen Nullstart gemacht, denn wir hatten ja keine groß angelegte Testphase, sondern haben das System direkt ab dem 1. Spieltag implementiert. Technisch hat es anfangs natürlich noch ein bisschen geruckelt, aber das haben wir nach den ersten Spieltagen in enger kooperativer Abstimmung mit den Verantwortlichen der HBL fast flächendeckend im Griff gehabt. Kleinere Ausfälle gab es immer wieder, aber das passiert, sobald Technik im Spiel ist.
Aus Schiedsrichtersicht haben wir die neue Aufgabe gut gelöst. Man darf nicht vergessen, dass unsere Schiedsrichter einen komplett neuen Prozess verinnerlichen mussten. Wenn man 400 oder 500 Spiele ohne Videobeweis gemacht hat, muss man seine neue Routine erst einmal finden. Wir arbeiten immer wieder Situationen heraus, die eigentlich etwas für den Videobeweis gewesen wären, aber das wird sich in Zukunft festigen und weiter etablieren. Natürlich gibt es auch trotz des Videobeweises noch Fehlentscheidungen, aber in Summe ist der Videobeweis ein Tool, der die Zukunft bestimmen und noch weiter an Relevanz gewinnen wird.
Wie bewerten Sie die Akzeptanz der aufgrund des Videobeweis getroffenen Entscheidungen bei den Vereinen?
Grundsätzlich glaube ich, dass die Vereine die zusätzliche Prüfungsmöglichkeit sehr begrüßen. Der ein oder andere fordert schon mehr Einsatzmöglichkeiten für den Videobeweis. Wir sind in der Abstimmung mit der HBL, ob wir zusätzliche Tools wie die Torlinientechnik und die Wechselzonen-Kamera installieren, um weitere Schritte in der Entwicklung zu machen.
Diese Funktionen sind eine bei Großereignissen bereits erprobte Technik. Da wir jedoch unterschiedliche Hallen, Infrastruktur und technische Systeme haben, sind wir gut beraten, nichts zu überstürzen, sondern die Entwicklung mit Augenmaß voranzutreiben. Ich bin sicher, wir werden das vernünftig lösen. Die Implementierung von technischer Unterstützung wie Buzzer und der Videobeweis helfen Schiedsrichtern und Mannschaften gleichermaßen weiter, denn wir werden damit der Entwicklung des Spiels in Punkto unter anderem in Sachen Schnelligkeit gerecht.
Ebenfalls neu war der Medienpartner, der Schiedsrichter und Einzelentscheidungen mehr in den Fokus gerückt hat. Was bedeutet diese Entwicklung für das Schiedsrichterwesen?
In dem Punkt müssen wir uns neu justieren, denn die mediale Welt hat sich durch den neuen Partner verändert. Wir sind auch mit den Schiedsrichtern an vielen Stellen deutlich präsenter als vorher und darauf müssen wir unsere Leute vorbereiten. Ganz ehrlich: Was dort teilweise passiert, findet nicht uneingeschränkt meine Zustimmung.
Wir müssen unsere Leute in Zukunft besser schützen, denn was viele gerade im Erstliga-Männerbereich vielleicht vergessen: Die Schiedsrichter sind im Vergleich zu den Spielern und Trainern immer noch keine Vollzeitprofi, denn sie gehen einem ganz normalen Job. Ein Spieler hat einen ganzen Trainerstab mit unterschiedlichen Spezialisten, die sich um die optimale Betreuung kümmert; diese Möglichkeit haben wir nicht. Wir müssen uns überlegen, wie wir uns in diesem Punkt noch professioneller aufstellen können, um unseren Schiedsrichtern mehr Support zukommen lassen zu können.
Wäre der Profi-Schiedsrichter, für den das Pfeifen sein Hauptjob ist, eine Option?
Nein, aktuell sehe ich diese Möglichkeit in Deutschland nicht. Dann würden Sozialversicherung und Berufsgenossenschaft ein Thema werden, außerdem sind unsere Leute oft hochqualifizierte Fachkräfte in ihren Berufen. Wir müssen unsere Bedingungen unabhängig davon aber weiter professionalisieren.
Blicken wir auf die personelle Aufstellung: Welche Veränderungen wird es in den Kadern geben?
Wir sind aktuell in der Planung, denn es kommen gerade noch die letzten Coaching-Ergebnisse, aus der 3. Liga und dem Nachwuchsbereich rein. Die Kaderzusammensetzung für die kommende Saison werden wir dann in den nächsten zwei, drei Wochen bekannt geben.
Während es im Elitekader meist ein oder zwei Veränderungen gibt, gab es im Bundesligakader im vergangenen Sommer einen großen Umbruch. Wie hat der Kader die Saison gemeistert?
Wir haben mit Hörath/Hofmann ein klares Flaggschiff im Kader. Timo und Thomas gehen mit ihrer Erfahrung voraus, sie sind absolut zuverlässig und haben zum Beispiel ein exzellentes Halbfinale im Frauenpokal gepfiffen. Sie sind das Zugpferd für die jungen Leute, von denen sich viele in der vergangenen Saison gut entwickelt haben.
Teilweise spüren wir jedoch, dass die jungen Schiedsrichter in diesem Kader in einem Alter sind, wo es noch viele Veränderungen im Arbeits- und Privatleben gibt - auch Auslandssemester waren vor 20 Jahren beispielsweise noch nicht gang und gäbe. Da gibt es sicherlich die ein oder andere Situation, wo wir nachjustieren müssen, was die Bereitschaft angeht, die Dienstleistung Schiedsrichter zu erbringen.
Wir sind seitens des Deutschen Handballbundes verpflichtet, die bestmögliche Besetzung zu jedem Spiel zu schicken und dafür brauchen wir einen zur Verfügung stehenden Pool an Schiedsrichtern, aus dem wir ansetzen können. Wir können uns nicht komplett nach jedem Schiedsrichter richten, das wäre der falsche Weg. Unsere Spitzenleute wie Schulze/Tönnies und Kuttler/Merz bauen ihr Privat- und Berufstermine um die Pfeiftermine herum und nicht umgekehrt. Ihre Karriere ist kein Zufall, sondern basiert auf dem hundertprozentigen Einsatz und der Bereitschaft, (fast) alles der Schiedsrichterei unterzuordnen.
Was würden Sie sich für die neue Saison wünschen?
Wir müssen über den Umgang mit unseren Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter durch die Trainer und Offiziellen in der Bundesliga sprechen. Ich bin zu diesem Punkt bereits mit der Männer-Bundesliga in der Diskussion und ich wünsche mir, dass alle Beteiligten erkennen, dass wir die Sportart nur gemeinsam nach vorne bringen können.
Es muss möglich sein, dass wir einen normalen Umgang miteinander pflegen. Wenn es im Spiel ein oder zwei Pfiffe gibt, die einer Seite nicht gefallen, kann es nicht sein, dass der ganze Frust auf die Schiedsrichter transportiert wird. Das wird in der Öffentlichkeit wahrgenommen und hilft uns nicht dabei, junge Leute von dem Job des Schiedsrichters zu überzeugen. Wir müssen an dieser Stelle wirklich auf unsere Sportart aufpassen.
Wie meinen Sie das?
Wir hatten bisher immer Respekt voreinander und haben versucht, gut miteinander zu arbeiten, aber dass kann ich nicht regelmäßig vergessen; nur, weil ich mit einem Pfiff nicht zufrieden bin. Ich sehe Entwicklungen, die mir wirklich große Sorgen machen und da müssen wir auch in den Austausch mit den Vereinen gehen. Keiner kann fehlerfrei pfeifen, aber wie sich nach einem Spiel auf die Schiedsrichter fokussiert wird, ist oft überzogen.
Ich erwarte von meinen Schiedsrichtern, dass wir Respekt vor der Arbeit der Spieler und Trainer haben, aber dieser Respekt muss auch umgekehrt transportiert werden. Es sind nicht alle, es gibt viele Trainer und Offizielle, die nie ein Problem machen, aber wenn die Entwicklung so weitergeht, werden auch diejenigen, die bisher nie auffällig geworden sind, sich anders verhalten, damit sie keinen gefühlten Nachteil gegenüber denjenigen haben, die jedes Wochenende Alarm machen. Und das wäre nicht gut für unsere Sportart.
jun