18.01.2024, 18:00
Rückblick auf das Finale der Champions League
Gisli Kristjansson trifft heute mit Island in der Hauptrunde der Handball-EM auf Deutschland - in der Lanxess Arena in Köln, wo er im vergangenen Sommer ein Stück Handball-Geschichte schrieb. Erst verletzte er sich im Halbfinale schwer, dann wurde er im Finale zum Matchwinner und ist nun nach im Nationaldress zurück. Ein Rückblick auf denkwürdige Tage im Juni.
Über den Tag hinweg verdichteten sich an diesem 18. Juni 2023 die Gerüchte und als Gisli Kristjansson dann trotz der am Vortag erlittenen Schulter-Verletzung nicht nur auf dem Spielberichtsbogen für das Finale der Champions League im Handball stand, sondern in die Halle zum Aufwärmen einlief, brandete der erste Jubel durch die Lanxess Arena in Köln.
Doch es war mehr ein emotionales Zeichen und es sollten auch mehr als einige "X-Faktor-Momente" werden, auf die SCM-Coach Bennet Wiegert gehofft hatte. Sechs Treffer erzielte der Isländer, der zudem mit gewonnen Zweikämpfen Löcher in die Deckung des Gegners riss und mehrere Siebenmeter herausholte.
Am Ende wurde Gisli Kristjansson zum MVP des Final4 der Handball Champions League gekürt. "Das sind die Geschichten, die nur der Sport schreibt", so Bennet Wiegert, der es sich mit dem Einsatz des Rückraumspielers nicht leicht gemacht hatte.
Vier Minuten vor dem Ende der regulären Spielzeit des Halbfinals schien das Final4 der Handball Champions League für Gisli Kristjansson beendet.
Der Rückraumspieler des SC Magdeburg war einmal mehr mit vollem Einsatz auf die Deckung des FC Barcelona gegangen, doch diesmal stand er nach seinem Durchbruch - bei dem er gehalten wurde und auf einen anderen Gegenspieler prallte - nicht wieder auf. Die Betreuer kamen über das Parkett, unterstützt auch vom Arzt des FC Barcelona und den Rettungssanitätern.
Die Zuschauer erhoben sich, der Name des Magdeburgrer Rückraumspielers schallte durch das Rund der Arena in Köln und als sich der Isländer erhob, gab es Applaus - auch von den Gegenspielern des FC Barcelona. Die Trage konnte zwar zur Seite gefahren werden und Gisli Kristjansson das Parkett auf eigenen Beinen verlassen, er wirkte dabei aber sichtlich angeschlagen. Während Kristjansson in der Kabine behandelt wurde, retteten sich seine Mitspieler erst in die Verlängerung und dann ins Siebenmeterwerfen.
"Gisli hat sich verletzt und dann musste ich ran. Ich bin einfach glücklich und froh, dass ich der Mannschaft auch im Angriff ein bisschen helfen konnte", erklärte Marko Bezjak, der in der Saison vor allem in der Deckung eingesetzt wurde. Als es nötig wurde, zeigte der Routinier aber in seinem vorletzten Spiel für den SCM seine Qualitäten - und erzielte in der Crunchtime vier Treffer.
Den letzten Siebenmeter brauchte er unterdessen nicht verwandeln, unter den Augen des mit bandagierter Schulter und Eisbeutel zurückgekehrten Gisli Kristjansson sorgten die Magdeburger Torhüter mit ihren Paraden bereits davor für das Final-Ticket.
Für Gisli Kristjansson schien das Finale aber kein Thema. "Er hat die Schulter luxiert. Sie haben sie relativ schnell wieder reinbekommen, aber was eine Schulter-Luxation für einen Handballer bedeutet, muss ich niemandem erklären", so Bennet Wiegert.
"Zudem, wenn es der Wurfarm ist. Ich rechne mit einer langen Ausfallzeit", erklärte SCM-Trainer Bennet Wiegert auf der Pressekonferenz nach dem Spiel in einem ersten Statement angesichts der ausgekugelten Schulter und fügte emotional hinzu: "Das zerreißt mir das Herz. Wir sind auch für ihn in der Pflicht."
"Bei dem, was wir tun, sind wir einfach immer 'All In'. Und kämpfen, machen unser Ding, so gut es eben geht", hatte Omar Ingi Magnusson im letzten Sommer in der Bock auf Handball die Isländer charakterisiert. Gisli Thorgeir Kristjansson nickte damals zustimmend: "All In zu gehen, das trifft es!".
Und dieses isländisches Krieger-Merkmal zeigte Gisli Kristjansson auch bereits bei früheren Verletzungen - auch in dieser Spielzeit, als Anfang Mai nach dem Viertelfinal-Hinspiel in der Handball Champions League ein Knöchelbruch und das Saison-Aus kommuniziert wurden.
"Einfach aufzuhören, das ist einfach nicht die Mentalität, die wir Isländer haben. Nicht wieder aufzustehen, kommt nie vor in meinen Gedanken. Stattdessen sage ich mir: Ich bin in diesem Sport All In - deshalb werde ich immer wieder aufstehen und weitermachen", hatte Gisli Kristjansson vor der Saison im Print-Magazin Bock auf Handball erklärt.
Und das setzte er um, stand in den letzten beiden Spielen der Handball Bundesliga wieder im Kader des SCM. Auch, weil es sich anscheinend "nur" um einen Haarriss gehandelt hatte. Seine Klasse zeigte Gisli Kristjansson auch im Halbfinale der Handball Champions League, jubelte - den Arm in Schonhaltung - mit seinen Mitspielern am Ende über das Ticket ins Endspiel.
"Gisli hat sich gestern die Schulter ausgekugelt und das ist eine sichere OP-Indikation für einen Handballer", berichtet Bennet Wiegert von der eigentlich eindeutigen Diagnose. "Wenn dann ein Spieler zu mir kommt und sagt: Ich möchte unbedingt spielen, kannst du mich mit in den Kader nehmen", dann habe er aber nachdenken müssen.
"Ich habe damit nicht gerechnet", so Bennet Wiegert über die Chancen. "Ich habe dann mit unseren Ärzten gesprochen wie ein Worst Case Szenario aussehen könnte. Mir wurde gesagt: Schlimmer als die eh anstehende Operation kann es nicht kommen", so der Trainer des SC Magdeburg, der mit Blick auf den Wunsch von Gisli Kristjansson anfügte: "Und wenn er den Schmerz tolerieren kann, dann darf ich einem Spieler nicht die Chance auf das größte Spiel seiner Karriere nehmen."
"Ich habe keine Ahnung", antwortete Gisli Kristjansson bei DAZN auf die Frage wie er auf dem Feld stehen konnte. Vor der Meldung des Kaders habe er es in der Halle ein wenig mit dem Ball probiert. "Die ersten Bewegungen waren Scheiße", räumt der Isländer ein. "Ich dachte nicht, dass ich spielen könnte, aber unsere Ärzte und Physios haben es hinbekommen. Sie sind die eigentlichen MVP", so Gisli Kristjansson nach dem Spiel.
"Es ist keine Wunderheilung", stellte Magdeburgs Trainer Bennet Wiegert beim übertragenden Sender DAZN vor dem Anwurf klar und fügte auf die Frage nach eventuellen Spielanteilen an: "Ich habe die Mannschaft eingeschworen, dass sie es machen müssen - aber vielleicht kann er für X-Faktor-Momente sorgen". Ein erster X-Faktor war bereits das Einlaufen, einige Minuten nach den anderen Akteuren kam der Isländer mit etwas Verspätung auf das Parkett und wurde von der Arena mit Sprechchören begrüßt.
Nach einem Abklatschen mit seinen Teamkollegen griff der Spielmacher beim Aufwärmen in der Halle zum Harzpott und schnappte sich einen Ball für das gemeinsame Warm-Up mit Kreisläufer Oscar Bergendahl und benutzte auch den rechten Wurfarm. Die Bewegungen sahen nicht wirklich rund aus, doch nach dem der SCM eine frühe Führung verspielt hatte, kam der Isländer dann nach gut einer Viertelstunde - und setzte direkt nach seiner Einwechslung den Treffer zum 8:7.
Die Magdeburger Fans feierten ihn nach diesem Treffer ebenso wie nach dem 11:12 (26.) mit "Gisli, Gisli"-Sprechchören - und noch vor der Pause legte der Isländer einen dritten Treffer nach. Die schnellen Beine sorgten für gewonnene Zweikämpfe gegen die Deckung von Kielce, aus der Nahdistanz kam der Wurf zumeist dann ohne Ausholbewegung aus dem Unterarm. Doch es waren mehr als nur einige X-Faktor-Momente. Kristjansson war - trotz der Verletzung - ein Faktor und stellte die gegnerische Deckung vor Probleme.
Auch der erste Treffer nach Wiederanpfiff ging auf das Konto von Kristjansson und am Ende waren neben den sechs Toren und der psychologischen Komponente die gewonnenen Zweikämpfe, die Platz für Mitspieler oder Siebenmeter sorgten, ein wichtiger Baustein für den Sieg des SC Magdeburg.
Doch Gisli Kristjansson strahlte, als er die Trophäe mit der kaputten Schulter in die Höhe reckte: Nach der Deutschen Meisterschaft nun der Erfolg in der Handball Champions League. "Die Schulter tut weh und ich weiß nicht, wie lange ich ausfalle. Aber das ist es alles wert. Einfach geil", so Kristjansson, der nach der Auszeichnung als MVP des Final4 in der Mixed-Zone feststellte: "Das ist einer der besten Momente in meinem Leben."
jun, cie, chs, dpa