04.11.2024, 06:00
Der Bundestrainer im großen Interview
Alfred Gislason macht gerade das, was er gefühlt schon immer getan hat: Spiele anschauen, schneiden und analysieren. Im handball-world-Interview spricht der Bundestrainer über altbekannte Neue, fixe und mögliche Wechsel, den Unterschied zwischen Show und Schau, die EM-Quali und die nahende WM - und darüber, warum es von Vorteil sein kann, an Weihnachten arbeiten zu müssen.
handball-world: Herr Gislason, Sie haben vor der Saison Flensburg als Meister getippt. Haben Sie sich vertan, oder was erleben wir da bislang in dieser Saison?
Alfred Gislason: Das stimmt, ich habe Flensburg und auch Magdeburg ganz vorn gesehen. Es ist überraschend, dass Flensburg in drei Spielen fünf Minuspunkte bekommen hat. Die Mannschaften sind bislang unwahrscheinlich eng beieinander. Kiel hat sich angenähert, Magdeburg sowieso. Berlin könnte am Ende die Breite fehlen, gerade auch durch den endgültigen Ausfall von Paul Drux - der könnte die Füchse auf lange Sicht schwächen.
Ganz oben stehen Hannover-Burgdorf und Melsungen. Gehören die beiden in den Kreis der Titelkandidaten - oder machen es am Ende die Altbekannten unter sich aus?
Beide Mannschaften sind jetzt stabiler als in den vergangenen Spielzeiten. Melsungen wird schon seit Jahren immer wieder als Meisterschaftskandidat gehandelt. Mittlerweile sind sie absolut konkurrenzfähig, Trainer Roberto García Parrondo leistet sehr gute Arbeit.
Also korrigieren Sie Ihren Meistertipp?
Lassen Sie uns darüber in zwei Monaten nochmal sprechen …
Einer, der auf der Erfolgswelle der MT mitreitet, ist Rechtsaußen Timo Kastening, den Sie nach längerer Pause wieder in die Nationalmannschaft berufen haben.
Timo hatte eine nicht ganz so starke Phase, weswegen ich ihn auch nicht nominiert hatte. Jetzt ist er wieder sehr gut in Form und hat sich unter Parrondo auch in der Abwehr noch weiter verbessert.
Für Kastening wird das Spiel gegen die Schweiz ein besonderes. 2019 gab er gegen die heute von Andy Schmid trainierte Mannschaft sein Debüt im DHB-Trikot. Was erwarten Sie von ihm?
Timo ein sehr außergewöhnlicher Außenspieler. Er hat die Fähigkeit, auch aus sehr spitzen Winkeln zu treffen und bringt dadurch sehr viel Qualität und Effizienz in die Mannschaft.
Aktuell ist er neben seinen starken Leistungen auch durch seine Kritik, dass in der Bundesliga zu viel geschauspielert werde, aufgefallen. Hat er Recht?
Ich finde seinen Appell richtig. Gleichzeitig denke ich aber auch, dass man im Handball sehr ehrlich miteinander umgeht. Und wenn ein Spieler zu viel schauspielert, dann wird er das von den anderen Spielern zu hören bekommen. Handballer regeln das unter sich. Und der Handball hat genug sportliche Show - da braucht es wirklich keine Schauspielerei. Ich denke, darüber herrscht auch Einigkeit.
Einigkeit herrscht auch zwischen Juri Knorr und Aalborg. Manchmal scheinen die Gerüchte im Vorfeld für mehr Aufregung zu sorgen als der Wechsel selbst. Nerven Sie Wechselgerüchte und aufkommende Spekulationen - vor allem dann, wenn sie Ihre Nationalspieler betreffen?
Nein, überhaupt nicht. Das gehört dazu. Wenn es keine Gerüchte gibt, würde man sich wohl eher Sorgen machen. Es ist das normalste der Welt, dass Spieler nach starken Leistungen auch für Top-Vereine interessant werden. Und ich freue mich dann in erster Linie über die starken Leistungen meiner Spieler, die solche Gerüchte auslösen.
Sprechen Ihre Spieler mit Ihnen über mögliche Wechsel und kommende Karriereschritte?
Es gehört zu meinem Job, das nicht zu machen und neutral zu bleiben. Wenn mich ein Spieler privat nach einem Ratschlag fragt, ist das etwas anderes. Da kann ich zumindest Pro und Contra aufzeigen - aber ich mische mich nicht ein.
Hätte Juri Knorr Sie zu seinem Wechsel nach Aalborg gefragt - wären dann mehr Pros oder mehr Contras dabei gewesen?
Ob der Wechsel nach Aalborg der richtige Schritt ist, wird man erst im Nachhinein wissen. Juri hat sich von Jahr zu Jahr weiterentwickelt und geht im Sommer den nächsten Schritt.
Wie hat er sich weiterentwickelt?
Anfangs hat Juri mehr für sich und den Kreis gespielt. Dann gab es eine Phase, in der er sehr viel für die Rückraumspieler gespielt hat, aber den Kreis etwas aus den Augen verloren hat. Jetzt macht er beides sehr stark, ich sehe seine Entwicklung sehr positiv. Für die Nationalmannschaft ist es das Wichtigste, dass er sich kontinuierlich nach vorn entwickelt. Die Konkurrenz in Aalborg wird sehr groß sein - aber er wird seinen Weg gehen.
Ihren Kapitän Johannes Golla zieht es Gerüchten nach zurück nach Melsungen. Ein sinnvoller Schritt?
Bei Johannes Golla vergisst man oft, wie jung er eigentlich ist. Selbst wenn er immer spielt, hat er noch zehn Jahre vor sich. Wo er die mit seiner Familie verbringt und sich wohlfühlt, muss er selbst wissen.
Golla ist nicht der einzige junge Spieler in der Nationalmannschaft. Sie haben das Team insgesamt stark verjüngt. Einer dieser jungen Spieler ist auch David Späth. Hat Deutschland mit ihm und Andreas Wolff aktuell das beste Torwart-Duo?
Ich würde sagen: eines der besten. Die Dänen mit Landin und Nielsen sind da auch hervorragend aufgestellt. Gleiches gilt für Spanien mit Corrales und Pérez de Vargas. Bei uns hat David jetzt den Durchbruch geschafft und die Lücke zu Andreas Wolff geschlossen. Im Achtelfinale der Olympischen Spiele hat er das gezeigt, was er uns im Training ständig zeigt - und ab da diese Leistungen bestätigt.
Kann es zum Problem werden, zwei so starke, aber auch so ehrgeizige Torhüter als Duo zu haben? Stichwort: mehr Spielanteile …
Nein, überhaupt nicht. Andi ist die 1A und David die 1B. Sie gehen beide super miteinander um, pushen sich gegenseitig und harmonieren sehr, sehr gut.
Ihr Vertrag beim DHB läuft noch bis 2027. Ist die Heim-WM für Sie ein guter Zeitpunkt, Ihre Karriere zu beenden? Oder sind Sie noch lange nicht fertig?
Ich habe es ja schon einmal vergeblich versucht, mit Handball aufzuhören - das werde ich nicht wiederholen. Nach der WM in Deutschland 2027 werde ich mit ziemlicher Sicherheit als Bundestrainer Deutschlands aufhören. Aber ich bleibe an der Seitenlinie. Die Arbeit mit jungen Leuten hält auch mich jung und gibt mir unglaublich viel.
Das heißt, wir dürfen Sie nochmal als Vereinstrainer erleben?
Ich war 22 Jahre in der Bundesliga unterwegs, einen Großteil davon inklusive Champions League. Dass ich durch diese enorme Belastung so gut durchgekommen bin, ist erstaunlich. Ob ich das noch einmal machen muss, weiß ich nicht.
Was dürfen wir denn in näherer Zukunft erwarten? In den zwei EM-Qualifikationsspielen gegen die Schweiz und die Türkei?
Gerade das Spiel gegen die Schweiz wird sehr interessant. Wir haben mit Knorr, Semper, Köster, Michalczik und Weber mehrere Ausfälle und Absagen. Die Mannschaft, die spielen wird, ist also nicht optimal eingespielt. Da darf gegen die Schweiz keiner meinen, dass das so wie bei der EM laufen wird. Die Schweizer sind unter Andy Schmid als Trainer sehr stabil und sehr stark.
Die Türkei ist leistungsmäßig ein Regal tiefer einzuordnen …
Ja, aber sie spielen sehr unterschiedlich. Gegen Portugal haben sie nur mit zwei Toren verloren. Es wird in beiden Partien darum gehen, die Spiele auf jeden Fall zu gewinnen, aber auch darum, neue Dinge zu versuchen und zu schauen, wie sich die Nachrücker präsentieren. Denn die, die sonst weniger Spielanteile haben oder gar nicht dabei waren, zeigen dann oft auch, was alles in ihnen steckt und geben besonders Gas.
In gut zwei Monaten beginnt die Weltmeisterschaft. Wie ist die Stimmung?
Sehr gut. Wir haben immer noch eine sehr junge Mannschaft. Aber die Entwicklung stimmt. Sie stimmte übrigens auch schon vor Olympia - aber dann haben wir in Paris und Lille vier Mal einen Großen geschlagen. Das hat uns enorm viel Selbstvertrauen gegeben. Die großen Drei sind weiterhin Dänemark, Frankreich und Schweden. Wir haben unser Standing verbessert, müssen das aber bei jedem Turnier aufs Neue beweisen. Dazu kommt: Wenn man eine Leistung wie bei den Olympischen Spielen gebracht hat, wird das als Standard auch in Zukunft wieder erwartet. Das bringt etwas mehr Druck mit sich.
Aber erwarten Sie und die Spieler denn nicht auch, die starken Leistungen zu bestätigen?
Doch! Aber ein Renars Uscins beispielsweise kann noch nicht in jedem Spiel so wie gegen Frankreich spielen. Ein Mathias Gidsel macht aber genau das. Also: Uns zu den Favoriten zu zählen, ist noch viel zu früh.
Aber das Ziel ist doch trotzdem, um eine Medaille zu spielen?
Selbstverständlich. Wir wollen ins Halbfinale. Dass wir aber schon die Konstanz haben, das zu erreichen, müssen wir uns wieder von Null an erarbeiten. Unser Ziel ist es natürlich.
Vor der Weltmeisterschaft kommt Weihnachten. Können Sie die Festtage und die Vorweihnachtszeit im Dezember überhaupt genießen? Oder ist das als Bundestrainer gar nicht möglich, weil jedes Jahr unmittelbar nach den Feiertagen ein Großturnier stattfindet?
Ich bin sowieso eher der Weihnachtsmuffel. Da kam es mir in der Vergangenheit schon öfters ganz gelegen, dass ich mich auch mal von der Familie zum Videoschneiden absetzen konnte. Grundsätzlich kann ich die Zeit schon genießen - aber die letzten Wochen vor dem Turnier steigt natürlich die Spannung. Das ist aber eine positive Spannung, verbunden mit enorm viel Vorfreude.
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Interview: Daniel Duhr