24.06.2024, 13:42
Handball-Turnier Paris 2024
Tanja Kuttler und Maike Merz sind die Nummer Zwei unter den deutschen Schiedsrichterteams. Die beiden Schwestern werden bei den Olympischen Spielen in Paris ihr Debüt unter den fünf Ringen geben. Ihre Karriere auf einen Blick.
Der 27. Mai 2018 ist ein ganz besonderes Datum in der Karriere von Tanja Kuttler und Maike Merz: Die Schwestern leiteten an diesem Sonntag ihr erstes Spiel in der 1. Männer-Bundesliga zwischen Frisch Auf Göppingen und GWD Minden. Es war das erste Mal seit 2009, dass ein Frauen-Gespann in der deutschen Beletage pfiff; der Einsatz sorgte deutschlandweit für Schlagzeilen. "Der nächste Schritt wird sein", sagte Kuttler damals, "zu einem Team heranzuwachsen, das regelmäßig in dieser Spielklasse eingesetzt werden kann."
Sechs Jahre später haben die Schwestern nicht nur dieses Ziel erreicht und sich in der 1. Männer-Bundesliga etabliert, sondern mit so manch anderem Meilenstein für Schlagzeilen gesorgt: Da waren beispielsweise die Frauen-Weltmeisterschaften 2019, 2021, 2023. Das Champions-League-Finale der Frauen 2022. Der PIXUM SuperCup 2022 der Männer. Die Frauen-Europameisterschaft 2022. Die Männer-Weltmeisterschaft 2023. Die Männer-EM 2024 im eigenen Land. Und nun: Die erste Nominierung für Olympische Spiele gemeinsam mit Robert Schulze und Tobias Tönnies.
Es ist der nächste große Erfolg für die Schiedsrichter-Schwestern. "Dass die Rolle des Schiedsrichters leider bis heute oft mit negativen Aspekten assoziiert wird, ist schade", bedauerte Merz im vergangenen Jahr in Bock auf Handball. "Denn auch als Schiedsrichter hat man positive Erlebnisse und feiert Erfolge - wenn auch oft hinter verschlossenen Türen, weil sie nicht so greifbar sind wie eine Meisterschale oder ein Pokal."
Manchmal können die Schwestern die Entwicklung selbst nicht glauben. "Hätte mir jemand vor fünf Jahren gesagt, wo wir heute stehen, hätte ich ihn für verrückt erklärt", sagte Kuttler. "Wir haben schon jetzt so viel mehr erreicht als wir uns je erträumt haben - es hat sich ausgezahlt immer einen Fuß vor den anderen zu setzen.“
Ihren Anfang nahm die beeindruckende Laufbahn im Jahr 2008, als sich die beiden Schwestern entschieden, gemeinsam zu pfeifen. Merz (Jahrgang 1986) hatte ihren Schiedsrichterschein 2002 erworben, die drei Jahre jüngere Kuttler (Jhg. 1989) den ersten Lehrgang zwei Jahre später absolviert. "Wir haben damals angefangen, weil unser Verein - wie die meisten Vereine - zu wenige Schiedsrichter hatte", erinnerte sich Kuttler einmal an die Anfänge ihrer Karriere. "Da wir aus einer Handballer-Familie kommen, war es klar, dass wir uns wo immer es geht auch im Verein engagieren."
Zunächst war das eigene Spielen bei der SG Argental jedoch wichtiger. "Wir hätten uns niemals vorstellen können, dass sich diese Priorität mal verschieben könnte", schmunzelte Kuttler. Das änderte sich 2011, als die Schwestern vom Handballverband Württemberg zum Sichtungslehrgang in Halberstadt angemeldet wurden. Sechs Teams wurden damals für den neuen "Frauenkader" des Deutschen Handballbundes gesichtet - und mit diesem Schritt nahm die Karriere der Schwestern, die zunächst unter ihrem Geburtsnamen Schilha/Schilha unterwegs waren, Fahrt auf.
Dass es ganz nach oben gehen würde, war jedoch nicht abzusehen, denn als Frauen an der Pfeife hatten sie trotz oder wegen des Frauenkaders lange schwerer als männliche Kollegen. "Uns wurden zu Beginn viele Steine in den Weg gelegt, da brauchen wir kein Blatt vor den Mund zu nehmen", sagte Kuttler vor der Männer-WM 2023 offen. "Es wurde uns schlichtweg nicht zugetraut, den Weg bis ganz nach oben zu gehen." Schiedsrichterinnen seien damals "eine Ausnahme [gewesen], wir waren Exotinnen."
Merz/Kuttler setzten sich jedoch durch. Nach den ersten Erfahrungen im Young Referee Program der EHF wurden sie 2014 in den Kader des europäischen Handballverbandes aufgenommen, im Oktober desselben Jahren leiteten sie ihr erstes Spiel im Europapokal. 2015 folgte der IHF-Status. Nach drei Einsätzen bei Nachwuchs-Weltmeisterschaften im männlichen und weiblichen Bereich war die Afrikameisterschaft der Frauen 2018 im Kongo ein Höhepunkt.
Seit der Nominierung für die Frauen-Weltmeisterschaft 2019 sind Merz/Kuttler endgültig in der internationalen Spitze angekommen und auch national haben sie sich ihr Standing erarbeitet. Viermal pfiffen die Schwestern bereits das Finale um den DHB-Pokal der Frauen (2019, 2021, 2023, 2024) und wurden 2023 bei den German Handball Awards ausgezeichnet. „Vor unseren Schwangerschaftspausen wurden wir eher als „Quotenfrauen" für das eine oder andere Spiel in der Männerbundesliga nominiert, jetzt sind wir ein etablierter Teil der Elite im deutschen Schiedsrichterwesen“, beschriebt Merz im vergangenen Herbst.
Die Vereinbarkeit des Pfeifens, ihrer Jobs - und der Familie - Merz hat zwei Töchter, Kuttler einen Sohn - ist ein stetiger Balanceakt. Als einziges Frauen-Gespann in der Männer-Bundesliga stehen die Schwestern zudem immer wieder besonders im Fokus. Eine Sonderrolle lehnen sie dennoch ab. "Wir wollen nicht nur Gleichberechtigung, sondern Gleichbehandlung - wir nehmen auch die Nachteile mit", betont Kuttler. Bei den Fitnesstests, welche der Deutsche Handballbund verlangt, legen sie für sich dieselben Maßstäbe an wie ihre männlichen Kollegen.
"Wir haben immer die Männer-Zeiten absolviert und das war uns auch wichtig, als wir nach unseren Schwangerschaften eingestiegen sind", betont Merz. "Eine Sonderbehandlung hilft uns nicht, denn auf dem Spielfeld verzeiht einem keiner etwas. Man muss auf diesem Niveau einfach seine Leistung bringen - das Geschlecht darf keine Entschuldigung sein." Daher waren Kuttler/Merz auch stets gegen eine Quote. "Es hilft keinem weiter, wenn man nur dort oben steht, weil man eine Frau ist."
Als Weltmeister Christian Schwarzer den Einsatz der Frauen-Gespanne bei der Männer-Weltmeisterschaft 2023 kritisierte, sorgte das medial für Gegenwind. "Absolut aus der Zeit gefallen", widersprach beispielsweise Verbandschef Andreas Michelmann. Und die deutsche Torhüter-Legende Andreas Thiel hielt trocken fest: "Sie können pfeifen und haben das Handballspiel verstanden. Darauf kommt es an."
Kuttler und Merz selbst blieben cool und ließen die Diskussion an sich abtropfen. "Der Handball zeigt, dass er im aktuellen Jahrhundert angekommen ist, und gibt da allen die gleichen Chancen und Rechte. Das ist das, was wir empfinden", kommentierte Merz und Kuttler ergänzte: "Das Schöne ist, dass wir sowohl in der Bundesliga als auch international auf der Platte überhaupt keine Unterschiede wahrnehmen. Wir fühlen uns voll akzeptiert."
Mit der Berufung für die Olympischen Spiele erreichten Merz/Kuttler 2024 den nächsten Meilenstein. "Wie für jeden Sportler ist auch für uns die Nominierung für ein olympisches Turnier das Größte", betonte Merz kurz nach der Bekanntgabe. "Damit erfüllt sich für uns ein Kindheitstraum."
jun