10.06.2024, 16:00
#Regelecke von handball-world.news:
Die letzten 30 Sekunden haben im Handball eine besondere Bedeutung. Neben der Spannung in engen Spielen gibt es auch regeltechnisch einen Unterschied zu den vorherigen 59:30 Minuten. Die Unparteiischen sind in der Schlussphase daher entsprechend gefordert - und sollen ihrer Linie trotzdem treu bleiben. Ein genauer Blick auf die oft entscheidenden letzten 30 Sekunden einer Partie.
"Aus Schiedsrichtersicht ist das spannende, dass wir in der Konsequenz der Spielfortsetzung teilweise eine andere Regelauslegung haben", erklärt Kay Holm, Schiedsrichter-Lehrwart des Deutschen Handballbundes.
Der Knackpunkt der 2016 eingeführten Regeländerung zu den letzten 30 Sekunden: Gibt es in den letzten 30 Sekunden einer Partie eine Disqualifikation (= eine rote Karte), wird das Spiel auf jeden Fall mit einem Strafwurf statt nur mit einem Freiwurf fortgesetzt. Der Hintergedanke: Für die gefoulte bzw. durch eine Regelwidrigkeit benachteiligte Mannschaft wird die Chance auf den Torerfolg (wieder) hergestellt.
Das Stichwort Gerechtigkeit spielt dabei eine große Rolle: Vor der Regeländerung der letzten 30 Sekunden gab es eine rote Karte, wenn beispielsweise ein schneller Anwurf oder die sofortige Freiwurf-Ausführung in den Schlusssekunden regelwidrig unterbunden wurden, doch davon profitierte die an der Ausführung gehinderte Mannschaft nicht mehr - ihre Chance, ein Tor zu erzielen, war dahin; der fehlbare Spieler "nur" für das nächste Spiel gesperrt.
Mit der Einführung des Strafwurfs wird diese Chance wieder hergestellt. "Die Regeländerung hat sich bewährt, weil sie gerechter ist", lobt auch Schiedsrichter-Lehrwart Holm. Seine Erfahrung: "Die Mannschaften sind vorsichtiger geworden."
Nein. Die Strafwurf-Regelung in den letzten 30 Sekunden umfasst keineswegs jedes Foul in dieser Zeitspanne. Nur Fouls, die sowieso (auch in den 59:30 Minuten vorher) eine rote Karte nach sich ziehen würden, sind betroffen. Das ist auch der Grund, warum in der letzten Aktion des Endspiels der Champions League 2024 Dika Mem für sein Foul an Mikkel Hansen nur eine Zeitstrafe kassierte und es anschließend nur einen Freiwurf gab.
Es gilt: Ist der Ball im Spiel, folgt auf ein rot-würdiges Foul immer ein Strafwurf - unabhängig davon, ob eine klare Torgelegenheit vorliegt oder nicht. "In diesem Fall unterscheidet das Regelwerk zwischen den vorherigen 59:30 Minuten und den letzten 30 Sekunden", so Holm. Auch bei einer Disqualifikation gegen die Bank in den letzten 30 Sekunden geht es übrigens immer mit einem Strafwurf weiter.
Der zweite Fall, in dem die Strafwurf-Regelung greift, sind Vergehen, wenn der Ball nicht im Spiel ist. Das klassische Beispiel ist die eben erwähnte Verhinderung eines formellen Wurfes - sprich: Ein Abwehrspieler unterbindet die (schnelle) Ausführung eines Freiwurfs, eines Anwurfs, eines Abwurfs oder eines Einwurfs.
Die Möglichkeiten dafür sind vielfältig: Den Ball nicht herausgeben oder wegrollen bzw. wegwerfen gehört ebenso zu den Regelwidrigkeiten wie ein Umklammern, Stoßen oder Schubsen des ausführenden Spielers. Auch das Blocken des Balles bei einem Abwurf oberhalb des Torraums fällt in diese Kategorie.
"Bei der Ausführung eines formellen Wurfes in der Schlussphase geht es häufig buchstäblich um Sekunden, weil die Zeit herunterläuft", so Holm. "Früher hat es für die verteidigende Mannschaft gereicht, den Spieler festzumachen - dann gab es zwar eine rote Karte, aber die entscheidenden zwei, drei Sekunden hatte man trotzdem von der Uhr genommen. Der nun folgende Strafwurf führt dazu, dass sich das nicht mehr lohnt."
Nein. Die beiden Regeln wurden zwar parallel eingeführt, haben ansonsten aber nichts miteinander zu tun. Die blaue Karte ist eine Disqualifikation mit Bericht, die es beispielsweise bei Tätlichkeiten oder arglistigen Fouls gibt - und zwar in den ersten 30 Sekunden einer Partie genauso wie in den letzten 30 Sekunden. Der einzige Unterschied am Spielende: Das Spiel wird mit einem Strafwurf fortgesetzt.
Der erste Ratschlag von Holm: Ruhe bewahren. "Wenn ein Spiel eng ist, umkämpft und beide Seiten immer hektischer werden, ist es eine große Herausforderung, den genauen Überblick zu haben, wie lange noch zu spielen ist", weiß Holm. Daher raten wir den Schiedsrichtern, in kritischen Situationen möglichst zügig das wegen der folgenden Bestrafung zwingenden Timeout zu geben. Damit ist allen klar, dass die Spielzeit nicht einfach herunterläuft - und man kann die Situation beruhigen und sich anschließend im Gespann kurz beraten und die Lage sortieren."
Auch ein Team-Timeout, das es in der Schlussphase häufig gibt, können die Schiedsrichter für sich nutzen. "Man kann sich noch einmal fokussieren und sich klar machen: Es sind jetzt die entscheidenden Sekunden, da müssen wir unbedingt aufmerksam und wach sein. Man kann sich auch noch einmal gegenseitig erinnern: Wenn etwas passiert, geben wir erst einmal Timeout und kommen zusammen."
Es sei zudem wichtig, Zeitnehmer und Sekretär - und, falls anwesend, den Delegierten - mit einzubeziehen. "Es gibt oft Diskussionen, wie viele Sekunden jetzt noch genau zu spielen sind", weiß Holm. "Daher ist es wichtig, sich mit dem Tisch abzustimmen - es sollte keiner vorzeitig eine Auskunft geben, die nachher nicht stimmt. Als Team aufzutreten, ist ganz, ganz wichtig."
Gerade an der Basis, wo es eventuell keine große Hallenuhr bzw. Anzeige gibt, ist der Kontakt zum Tisch für Holm noch wichtiger. "Natürlich sind die Schiedsrichter in den unteren Ligen angehalten, die Zeit selbst zu stoppen, aber es kann immer passieren, dass es Differenzen zwischen der eigenen Uhr und der Uhr des Kampfgerichts gibt - beispielsweise, weil man als Schiedsrichter in einer Wischpause vergessen hat, die Zeit zu stoppen."
Aus regeltechnischer Sicht ist der Schiedsrichter für die Spielzeit verantwortlich, doch gerade, wenn es keine öffentliche Anzeigetafel gibt, rät Holm, sich an der Tischuhr des Kampfgerichts zu orientieren. "Das ist die Uhr, an der sich auch die Mannschaftsverantwortlichen orientieren - ich wäre als Schiedsrichter in der Situation clever und würde nur diese Zeit nach außen kommunizieren. Wenn ich sage, es sind noch 15 Sekunden und der Tisch pfeift nach sieben Sekunden ab, wäre das die größte Katastrophe, die in so einer Phase passieren kann."
Berechenbarkeit. Das ist ein Schlüsselwort für Holm, das auch in den letzten 30 Sekunden gilt - gerade beim passiven Spiel. "Man sollte den Arm genauso schnell oder genauso langsam heben wie die 59:30 Minuten vorher", betont der Schiedsrichter-Lehrwart. Die Ausnahme: Eine absichtliche Verschleppung des Spiels. Ist das sichtbar, kann man als Schiedsrichter auch sofort - ohne die vier Pässe abzuwarten - auf passives Spiel entscheiden.
"Wenn die Spieler Pässe zurück in die eigene Hälfte spielen, auf der Stelle prellen oder wieder vom Tor des Gegners weglaufen, ist es offensichtlich, dass es keinen Zug zum Tor gibt", erläutert Holm. "Ansonsten muss ich als Schiedsrichter darauf achten, dass ich nicht dem Druck einer Mannschaft nachgebe und den Arm früher hebe, obwohl der Gegner das gleiche Angriffsverhalten zeigt wie im restlichen Spielverlauf."
Auch bei Timeouts mahnt Holm zur Berechenbarkeit. "Ich muss mir die Frage stellen: Hätte ich das Timeout nach einem Torwurf oder einem Foul das ganze Spiel über gegeben oder will ich es nur geben, weil noch ein paar Sekunden zu spielen sind?", sagt der Schiedsrichter-Lehrwart. "Natürlich muss ich als Schiedsrichter agieren, wenn es zu einer Zeitverschleppung kommt, aber nach einem einfachen Foul, das du einem Freiwurf führt, muss ich nicht automatisch die Zeit anhalten - nur, weil es die Schlussphase des Spiels ist."
Es gibt klare Kriterien, wann die Zeit angehalten werden muss - beispielsweise bei einer Zeitstrafe, einer Disqualifikation oder einem Pfiff des Kampfgerichts. Alles andere - Wischen, Siebenmeter, Ball hinter der Bande - liegt im Ermessen der Schiedsrichter. "Man muss seiner Linie treu bleiben - auch, wenn der Druck natürlich immer größer wird", betont Holm. "In wenigen Sekunden kann so viel passieren, das ist unglaublich! Darauf muss man sich auch als Schiedsrichter einstellen, um die Situation zu meistern."
Hinweis: Dieser Artikel erschien erstmals am 27. April 2021.
Julia Nikoleit