16.10.2024, 17:00
Zwischen Terminstress und fehlender Erholung
Ob Harald Reinkind, Dika Mem oder Julian Köster: Die Liste der verletzten Olympia-Stars wurde in den vergangenen Wochen immer länger. Für Dr. Frowin Fasold von der Deutschen Sporthochschule Köln ist das keine Überraschung. Der Sportwissenschaftler erklärt, warum jedoch nicht allein die 60 Minuten auf dem Feld das Problem sind und plädiert für ein Umdenken.
Bundesliga, Europacup und DHB-Pokal von September bis Juni, ein Großturnier im Januar und in Frühjahr und Herbst zusätzlich die Qualifikationsspiele für die Welt- oder Europameisterschaft im kommenden Jahr: Der Terminplan der Handball-Stars platzt aus allen Nähten. Und alle vier Jahre opfern die Nationalspieler ihre Sommerpause - die einzig mehrwöchige Erholungsphase ohne Wettkampf - noch für die Olympischen Spiele.
Der Preis dafür ist hoch, wie die Verletzungsmeldungen der vergangenen Wochen zeigen. Ob Harald Reinkind, Dika Mem oder Julian Köster: Es fallen nach und nach immer mehr Olympioniken aus. „Der Zusammenhang zwischen Olympia und der Verletzungsserie - und die jüngsten Meldungen werden nicht die letzten Ausfälle gewesen sein - ist klar zu sehen", sagt auch Dr. Frowin Fasold.
Der Sportwissenschaftler ist am Institut Trainingswissenschaft und Sportinformatik der Deutschen Sporthochschule in Köln tätig; seit 2014 leitet er das Lehr- und Forschungsgebiet Handball. Die Debatte um die hohe Belastung und ihre Folgen wird, davon ist er überzeugt, nicht zum letzten Mal geführt.
„Es macht mich ein bisschen traurig, denn wir werden immer wieder über die Thematik sprechen, aber es wird sich nichts ändern", sagt Fasold. „Die Trainer kämpfen Jahr für Jahr darum, ihre Spieler bestmöglich zu präparieren, was dazu führt, dass die Spieler immer fitter werden und noch mehr Spiele durchhalten." Das sei „ein Teufelskreis, der irgendwann hässlich wird".
Auf über 80 Spiele im Jahr kommen Nationalspieler, die mit ihrem Team in jedem Wettbewerb lange vertreten sind. Der freiwillige Verzicht, um den eigenen Körper zu schonen, ist dabei in der Regel keine Alternative. „Die Spieler werden Handballer, weil ihnen Handball Spaß macht und sie gerne Spiele machen", sagt er. „Für Nationalspieler kommt die Ehre dazu, das Nationaltrikot zu tragen. Es gehört extrem viel dazu, das abzusagen."
Angetrieben von ihrem Ehrgeiz und der Leidenschaft für den Sport halten die Spieler das System aufrecht - auch, wenn es sie die Gesundheit kostet. Harald Reinkind schleppte sich schon mit Verletzungsproblemen durch das Olympia-Turnier, nach einer Operation fällt er bis Jahresende aus. „Dass der zusätzliche Impact von Training und Spielen negative Auswirkungen hat, verwundert nicht", sagt Fasold.
Denn das Problem ist nicht alleine die hohe Spielanzahl. „Die Spiele an sich haben an der Überbelastung nur einen kleinen Anteil", sagt Fasold. „Das notwendige Training und gerade die Reisestrapazen summieren sich auf und sorgen zusammen mit den Spielen für eine Überbelastung. Hinzu kommt die hohe mentale Belastung, unter anderem durch den Reisestress und die Trennung von der Familie - und wenn man mental belastet ist, schlägt das auch körperlich durch."
Entsprechend bräuchte es, um die Belastung zu reduzieren, ein Umdenken. „Wir müssen darüber nachdenken, wie wir die Wettbewerbe anders gestalten können", fordert Fasold. „Wir sollten uns fragen, ob alle Formate noch zeitgemäß sind und wie viele Spiele wir im Handball wirklich brauchen."
Braucht es ein Spiel um den 3. Platz im DHB-Pokal und der Champions League? Braucht es die langatmige Gruppenphase in der Champions League, in der viele Spiele sportlich nahezu bedeutungslos sind, aber die Teams für ein Spiel quer durch Europa reisen? Braucht es immer größere Teilnehmerfelder bei Welt- und Europameisterschaften? Braucht es mehrstufige Qualifikationen mit Hin- und Rückspielen? Braucht es - last, but not least - Wettbewerbe wie die Klub-WM?
Fasold hat dazu eine klare Meinung. „Wir sollten speziell die Anzahl der mental und sportlich ‚irrelevanten' Partien für die europäischen Topspieler reduzieren", sagt er. „Mich würde beispielsweise interessieren, wie viele Spieler das Spiel um den 3. Platz in Köln gerne machen." Die Abschaffung des All-Star-Games, das von der Handball-Bundesliga früher direkt nach einem Großturnier durchgeführt wurde, sei beispielsweise ein Schritt in die richtige Richtung gewesen.
Auch den Bundesliga-Spielbetrieb könne man hinterfragen. „Ich weiß, dass es einen Aufschrei geben wird, aber wenn man die Bundesligaspiele in Kleinturnier-Form ansetzen würde, ließen sich die Reisestrapazen drastisch reduzieren", sagt Fasold und verweist mit Nachdruck auf den Zeitaufwand und die Gefahr der mangelhaften Regeneration durch lange An- und Abreisen.
„Die beste Erholungsmaßnahme ist Schlaf, das ist nachgewiesen", erklärt der Sportwissenschaftler. „Es ist viel passiert, es gibt neue Methoden und auch bei der Ernährung werden große Fortschritte gemacht, aber das Wichtigste für eine gute Regeneration ist: Guter Schlaf! Und unter diesem Gesichtspunkt ist es eine Katastrophe, wenn man nach einem Spiel erst einmal fünf, sechs oder sieben Stunden im Bus sitzt."
Ein Aufräumen des Wettbewerbskalenders oder die Implementierung anderer Spielmodi sind nach aktuellem Stand jedoch unwahrscheinlich. Es gibt jedoch eine Maßnahme, die jeder Verein, jeder Trainer, jeder Fan sofort umsetzen kann, um die Spieler zu entlasten. „Wir brauchen mehr Geduld mit Spielern, die aus einer Verletzung zurückkommen", sagt Fasold.
Denn auch, wenn man beim VfL Gummersbach die Rückkehr von Julian Köster herbeisehnt oder bei den Rhein-Neckar Löwen auf das Comeback von Juri Knorr schielt: Heilung braucht nun einmal Zeit. „Ich hoffe, dass die Vereine Geduld haben und ihren Spielern vielleicht sogar ein bisschen Bonuszeit geben. Die Gefahr von erneuten oder zusätzlichen Verletzungen ist erhöht, wenn ein Spieler so schnell wie möglich - und damit vielleicht zu früh - wieder einsteigt. Und einen erneuten Ausfall will niemand."
Julia Nikoleit