31.05.2019, 09:36
Trainer des THW Kiel zieht sich vom Vereinshandball zurück
Er gehört zum THW wie das Zebra im Logo: Kiel muss im Sommer Abschied vom womöglich größten Trainer der Vereinsgeschichte nehmen. Mit Alfred Gislason verliert der deutsche Rekordmeister und auch die Bundesliga eine Identifikationsfigur.
Es ist eine Geschichte, die unter die Haut geht und die so viel über diesen Typen Alfred Gislason aussagt. Im "Zebra Journal" schrieb Piet Krebs im Juni 2014: "Vorbereitungsspiel irgendwo im kalten Niedersachsen. GWD Minden gegen Knattspyrnufelag Reykjavik. Der Name dieses Vereins war unaussprechbar, der Kerl auf halblinks unaufhaltbar. 'Vielleicht braucht der als Dämpfer einfach mal einen auf die Schnauze', dachte ich mir. Ja, genau so war das beim Handball der 80er Jahre. Gesagt - getan. Einer muss es ja tun. Der Kerl schüttelt anschließend nur den Brummschädel und spielt ohne Meckern weiter. Wenige Minuten später die schnelle Rache am anderen Halbkreis. Mein Kiefer schmerzt - und dieser hundsgemeine Ur-Wikinger lächelt verschmitzt und verlässt schnell den Tatort. Mein spontaner Gedanke im Sinne der Völkerverständigung: Das ist einer. Monate später sitze ich TuSEM-Manager Klaus Schorn gegenüber und unterschreibe meine Wechselpapiere und den neuen Arbeitsvertrag. Anschließend zieht Schorn ein Foto aus der Jackentasche und präsentiert mir stolz einen weiteren Neuzugang: Das isländische Kantholz ist ab sofort mein Mitspieler. Im ersten Sommer-Trainingslager biete ich ihm spontan meine Hand zur Versöhnung und mein Doppelzimmer zur Beherbergung. Alfred lächelt und schlägt ein. Fünf Jahre teilten wir auf unseren Sportreisen das Hotelzimmer. Und die Mini-Bar. Und während ich kurz vor der Bettruhe den Flaschenöffner und die Fernbedienung verwaltete, machte Alfred sich noch schnell Notizen von besonders guten Übungen und erfolgreichen Taktiken. Schon damals war klar: Der Typ wird seinen Weg gehen. Auch als Trainer. Ein Handballer mit Haut und Haaren. Und Herz."
Nur noch in einem einzigen Pflichtspiel sitzt dieser Handball-Verrückte aus Island auf der Bank des THW Kiel. Im Sommer ist für Gislason Schluss - nach dann elf Jahren beim deutschen Rekordmeister und 22 Jahren als Coach im deutschen Oberhaus. "Ich habe 22 Jahre in der Bundesliga gemacht und werde dieses Jahr 60 - es ist Zeit, an eine neue Trainergeneration zu übergeben", erklärte Gislason vor einigen Wochen und fügte mit seinem beliebten verschmitzten Grinsen hinzu: "Bevor ich wie der Opa von allen dort rumstehe." Grundsätzlich rechne er nicht damit, dass "jemand meinen geschmeidigen Gang an der Seitenlinie vermissen wird".
Ja, dieser "geschmeidige Gang", er ist eine Geschichte für sich. Und die gelebten Emotionen an der Seitenlinie erst: Wenn Gislason von der Bank die Spiele seines THW verfolgt, geht er bei jeder Aktion seiner Profis voll mit. Der Oberkörper kippt dann meist nach hinten durch, im Hohlkreuz rotiert der Isländer wild mit den Armen. Trifft man ihn nach Schlusspfiff für ein Interview an, ist Gislason nicht selten durchgeschwitzt. Er lebt für diesen Sport - und das auch neben der Platte. Nicht selten sei er schon "von mir erschrocken", wenn ihm Bilder von dem bekannten wie einzigartigen Mitfiebern gezeigt werden.
Gislason reißt mit seinem Abschied nicht nur in Kiel eine große Lücke, der bullige 1,91-Meter-Hüne ist längst festes Inventar der Bundesliga geworden. Wird seine Zeit als Spieler bei TuSEM Essen (1983 bis 1988) eingerechnet, hat er 27 (!) Saisons in der Bundesliga miterlebt. Mit dem SC Magdeburg feierte Gislason 2002 den bis zu diesem Zeitpunkt größten Erfolg seiner Karriere - den Champions-League-Sieg. Im Anschluss an seine Zeit in Sachsen-Anhalt trainierte er zwei Jahre lang den aktuell vom Abstieg bedrohten Traditionsklub aus Gummersbach, ehe ihn der große THW für eine dem Vernehmen nach satte Ablösesumme von 700.000 Euro aus seinem Vertrag herauskauft.
Es folgt eine einzigartige Beziehung, die von Erfolgen gepflastert ist. Den THW Kiel ohne Gislason können sich nicht nur die Fans der Zebras schwer vorstellen. Bis jetzt feierte der Isländer sechs deutsche Meisterschaften (zuletzt 2015), sechs Pokalsiege (zuletzt 2019), zwei Champions-League-Titel (zuletzt 2012) und einen Triumph im EHF-Cup (ebenfalls 2019) mit "seinem" Verein. Fünfmal (zuletzt 2013) wurde er zudem als Trainer des Jahres in Deutschland gewählt.
Den Vereinstrainer Gislason wird es fortan aber nicht mehr geben. "Mein Plan ist es, erst einmal eine Pause bis zum Ende des Jahres einzulegen. Dann kann ich mir vorstellen, eine Nationalmannschaft zu trainieren", so sein Plan für die nähere Zukunft. Den Bundesliga-Stress will er sich nicht mehr antun. Die unzähligen Stunden, in denen sich Gislason mit dem nächsten Gegner beschäftigt hat, die zahlreichen Reisen auf vier Rädern - all das hat er gehörig satt. Wie es Gislason selbst ausdrückt: "Wenn ich ein Buch über mich schreiben würde - der Titel würde lauten: 'Mein Leben im Bus.'"
In Kiel leitete Gislason in den vergangenen Jahren höchstpersönlich einen erforderlichen Umbruch ein. Als Nachfolger hätte der THW mit Blick auf die eigene Geschichte kaum einen passenderen Trainer als Filip Jicha finden können. Als langjähriger Kapitän saugte er Gislasons Worte auf, zuletzt sogar als Co-Trainer. Der Tscheche übernimmt eine Mannschaft mit erfahrenen (u.a. Domagoj Duvnjak oder Steffen Weinhold), aber auch vielen jungen Spielern (u.a. Lukas Nilsson oder Nikola Bilyk). Eine Truppe, die schnellstmöglich die in der jüngeren Vergangenheit aufgeklaffte Lücke zur internationalen Spitze schließen will. Mithelfen kann da sicherlich ein Spielmacher wie Sander Sagosen, der die deutsche Nationalmannschaft mit Norwegen im Halbfinale der Heim-WM rausgekegelt und sich bei Paris Saint-Germain seine Sporen verdient hat. Für ihn ist die Anziehungskraft des THW trotz anderer, finanziell wohl lukrativerer Angebote groß genug.
Und was ist mit Gislason? "Wenn jemand einen Rat braucht, dann helfe ich gerne. Aber es gibt für mich jetzt auch etwas Anderes als Handball, auch wenn es eine große Ehre war, bei diesem großen Klub zu arbeiten." Den kommenden Sommer wird der Vater von zwei Söhnen (Elfar und Andri) und einer Tochter (Adelheid) auf seinem ausgebauten Bauernhof in Wendgräben vor den Toren Magdeburgs verbringen.
"Die ganze Familie wird dort für vier bis sechs Wochen hinkommen. Wir haben noch nichts geplant, wir wollen einfach die gemeinsame Zeit genießen", denkt Gislason voraus. Auf seinem Bauernhof hat der Isländer schon in den vergangenen Jahren Kraft für neue Aufgaben beim THW getankt. "Da habe ich eine Werkstatt, sogar einen Trecker", verriet er.
Zuvor soll aber möglichst noch zweimal gefeiert werden: Erst am 9. Juni vor der Ostseehalle, wenn ausgerechnet Erzrivale Flensburg noch die Meisterschaft entrissen wurde. Und dann am 26. Juli, wenn das Abschiedsspiel für Gislason steigt. Auch viele ehemalige Spieler haben sich für dieses Highlight angekündigt. Das letzte für Gislason - bevor er sich auf seinem Bauernhof die verdiente Ruhe gönnt.
Maximilian Schmidt