11.11.2024, 14:30
Ein Spielbericht aus Sicht der Schiedsrichter Hurst/Krag
Welche Mannschaft verschlief den Start? Mit welchem Wechsel sorgte der Trainer für den entscheidenden neuen Impuls? Und wer erzielte das Siegtor? Ob in Zeitung oder Fernsehen: In jedem Spielbericht stehen naheliegenderweise die Mannschaften und ihre Spieler sowie Trainer im Fokus. Für den "Tag des Schiedsrichters" richtete handball-world den Blick auf die dritte Partei auf der Platte: Ein Spielbericht aus der Sicht der Unparteiischen.
Am Ende werden Marcus Hurst und Mirko Krag 64 Tore geben.
Sie werden 41 Freiwürfe ausführen lassen.
Sie werden 15 Mal den Arm zum passiven Vorwarnzeichen heben.
Sie werden acht Einwurfentscheidungen treffen
Sie werden fünf Siebenmeter pfeifen.
Sie werden fünfmal auf "Kreis ab" entscheiden.
Sie werden vier Zeitstrafen aussprechen.
Sie werden zweimal Stürmerfoul anzeigen.
Sie werden einmal Fußspiel und einmal Doppel-Prellen erkennen.
Sie werden eine gelbe Karte zeigen.
Sie werden keine rote Karte ziehen.
Das ist das Arbeitsprotokoll im Achtelfinale des DHB-Pokals zwischen dem Buxtehuder SV und HB Ludwigsburg. Rund 350 Einsätze für den Deutschen Handballbund haben die beiden Schiedsrichter in ihrer Karriere bereits absolviert, sie haben das prestigeträchtige Nordduell zwischen dem THW Kiel und der SG Flensburg-Handewitt geleitet und waren beim REWE Final Four in Köln im Einsatz.
An einem Mittwochabend Anfang Oktober stehen sie nun in der Halle Nord in Buxtehude auf dem Feld. Der Gastgeber geht als Außenseiter in die Partie mit dem Deutschen Meister, doch das ist für Hurst/Krag unwichtig. Ihr Ziel für dieses Spiel ist klar: Sie wollen das Spiel sauber über die Bühne bringen, ihre Aufgabe mit so wenigen Fehlern wie möglich erledigen und vor allem: Nicht auffallen.
"Besonders faszinierend ist es für uns, dass die Mannschaften ein Spiel gestalten und entscheiden, während wir als Schiedsrichter möglichst unauffällig im Hintergrund bleiben, aber immer zum richtigen Zeitpunkt agieren müssen, damit ein Spiel fair und bestmöglich für alle Beteiligten abläuft", haben sie den Reiz ihrer Aufgabe einmal beschrieben.
Krag eröffnet das Spiel um 19:30 Uhr mit dem Anpfiff und hebt einen Daumen zum Kampfgericht. Ihr erstes Handzeichen an diesem Abend ist nach 36 Sekunden notwendig: Nach einer Parade zeigt Hurst Abwurf an. Rund 20 Sekunden später ist er es, der den ersten Torpfiff an diesem Abend abgibt: HB Ludwigsburg stellt auf 1:0 (1.).
Abwurf (1:36), Einwurf (3:07) und erneut Tor (3:32): In der Anfangsphase ist es aus Sicht der beiden Schiedsrichter ein ruhiges Spiel. Die Mannschaften tasten sich noch ab, wobei Ludwigsburg oft vorlegte und Buxtehude nachzog. Wenn die Abwehrreihen zupacken, sind die Unparteiischen da: Krag gibt nach rund fünf Minuten einen Freiwurf und zieht sich mit schnellen Schritten rückwärts aus dem Aktionsraum heraus.
Auf der Gegenseite muss Hurst die Buxtehuderinnen kurz darauf mit drei schnellen Pfiffen auf den korrekten Ort der Freiwurfausführung hinweisen. Von wo muss der Ball gespielt werden und wo genau steht der Fuß beim Absprung: Diese Dinge fallen in ihren Bereich, während sich die Spielerinnen um das Torewerfen bemühen. Bei einem Gegenstoß von Buxtehude läuft Krag mit, geht ein bisschen in die Knie und beugt sich vor, um die Linie des Torraums genau im Blick zu haben. Seine Entscheidung: Kein Übertritt, 5:5 nach zehn gespielten Minuten.
Und so geht es weiter: In jeder Spielminute müssen Hurst und Krag ihre Entscheidungen treffen. Sie haben anders als die Spielerinnen keine Atempause, die vielleicht in der Abwehr einmal durchatmen können. Die beiden Schiedsrichter sind auf beiden Seiten ständig gefordert, müssen ihre Augen - und Ohren - überall haben. Vielleicht müssen sie sogar mehr Entscheidungen treffen als die Spielerinnen; auch die Entscheidung, nicht zu pfeifen, ist eine Entscheidung.
Nach einer knappen Viertelstunde gibt es den ersten Siebenmeter der Partie. Krag nimmt seine Position auf der Wurfarmseite an - die Schiedsrichter stehen bei der Ausführung immer auf der Wurfarmseite, sodass der Spieler das optische Armsignal, was den Pfiff begleitet, gut wahrnehmen können. Der Ball geht daneben, eine Atempause für die Unparteiischen gibt es nicht. Sie wechseln die Position. Beim ersten Team-Timeout kommen sie zusammen, Faustcheck.
Zu den Pfiffen kommt eine stetige Kommunikation dazu. Cara Reiche sucht den Dialog, Krag schüttelt den Kopf. Als Tor-Schiedsrichter steht er inzwischen links neben dem Kasten des Buxtehuder SV. Hurst - Tor-Schiedsrichter auf HBL-Seite - duckt sich wenig später, um dem Abwurf von Nicole Roth nicht im Weg zu stehen. Anders als die Spielerinnen können die beiden Unparteiischen nicht ausgewechselt werden, sondern müssen durchhalten - unabhängig davon, wie es läuft.
An diesem Abend läuft es jedoch weitestgehend glatt. Zur Halbzeit führen die Gäste mit 14:11. Sechs Minuten nach Wiederanpfiff - es war 20:18 Uhr, als Krag die zweite Halbzeit mit seinem Pfiff eröffnete - kommt es zu einer kuriosen Szene: Bei einem Anwurf von HB Ludwigsburg kommt es zu einem Stockfehler, Hurst und Krag entscheiden auf Ballbesitzwechsel. Der Buxtehuder SV kann das jedoch nicht nutzen. Stattdessen setzt sich Ludwigsburg ab. Als Hurst nach 36:53 gespielten Minuten den Arm hebt, ist der Vorsprung auf 20:14 angewachsen.
Die in den folgenden Minuten stetig anwachsende Differenz spielt Hurst und Krag in die Karten. Eine gelbe Karte und vier Zeitstrafen plus die ein oder andere mündliche Ermahnung sind progressiv betrachtet kein harter Arbeitstag für die Schiedsrichter. Das Spiel verlangt auch nicht mehr, es ist ein ruhiger Abend. Dass 20 Minuten vor dem Ende sich eine Werbebande löst, ist fast schon ein Highlight. Die beiden Unparteiischen begutachten den Schaden, Hurst geht in das Gespräch mit den Bänken und nachdem alles geklebt ist, geht es weiter.
Um im Mannschaftsjargon zu bleiben: Es ist eine Pflichtaufgabe, die sich den beiden Unparteiischen hier stellt. Die Bänke sind verhältnismäßig ruhig, harte Szenen unterbleiben; auch, wenn es für Hurst/Krag weiterhin Zweikämpfe zu beurteilen gibt.
Das absolute Feuer eines heißen Spiels fehlt jedoch. Zeitstrafe (45:41), ein zurückgepfiffener Anwurf (49:20) und ein erneuter Positionswechsel: Die Partie schleppt sich ihrem Ende entgegen. 48 Sekunden vor dem Ende spielt Roth den Anwurf zu ungenau, der Ball trudelt in die Buxtehuder Hälfte, doch Hurst verzichtet auf eine Ermahnung.
Der letzte Pfiff gehört - ebenso wie der erste Pfiff - Mirko Krag: Drei Sekunden vor dem Spielende pfeifet er nach dem letzten Ludwigsburger Treffer die Partie noch einmal an, doch eine echte Chance bekommt der Gastgeber nicht mehr, denn da dröhnt schon die Sirene.
Während sich die Ludwigsburgerinnen in den Armen liegen, geben die Unparteiischen Trainern und Kampfgericht die Hand und verlassen das Spielfeld. Nach 64 Toren, 41 Freiwürfen, fünf Siebenmetern, vier Zeitstrafen, einmal Fußspiel und unzähligen weiteren Pfiffen - und mindestens ebenso vielen Entscheidungen, nicht zu pfeifen - ist der Arbeitstag beendet.
jun