01.02.2024, 12:30
Tanja Kuttler / Maike Merz
Für die Schiedsrichter:innen des Deutschen Handballbundes gehört die Videoanalyse zum Alltag. Auch jungen Unparteiischen im Amateurbereich wird immer wieder empfohlen, sich selbst auf Video aufzunehmen, weil der Lerneffekt immens groß sein kann. Doch wie sieht eine sinnvolle Videoanalyse aus? Die Top-Schiedsrichterinnen Tanja Kuttler und Maike Merz geben für den "Tag des Schiedsrichters 2023" 10 Tipps aus eigener Erfahrung.
Für eine gute Videoanalyse ist die Qualität des Bildmaterials entscheidend. Als wir in der Bezirksliga das erste Mal eins unserer Spiele aufgenommen haben, war die Bildqualität - vorsichtig formuliert - bescheiden. Neben der technischen Qualität bzw. der Auflösung spielt aber auch die Perspektive eine wichtige Rolle. Heutzutage lässt sich per Smartphone jedes Spiel problemlos filmen, aber gerade am Anfang vergisst man zum Beispiel oft, dass beide Schiedsrichter im Bild zu sehen sein sollten.
Um geeignetes Bildmaterial für die Analyse zu haben, müsst ihr einen guten Standort für die Kamera wählen. Die Führungskamera in der Bundesliga, die uns die Bilder für die Videoanalyse liefert, steht auf Höhe der Mittellinie - das ist die klassische Position, die wir euch auch empfehlen. Filmt ihr von einer Seite, ist die andere Spielfeldhälfte nur schwer zu erkennen.
Und: Stellt euch nicht mitten in den Fanblock, denn wenn die Zuschauer aufspringen, erkennt ihr später auf dem Bild nichts mehr. Und auch, wenn ihr am Anfang vielleicht nicht viel Geld investieren wollt: Ein ordentliches Stativ, das auf dem Fußboden steht, lohnt sich, denn mit einem verwackelten Video könnt ihr nichts anfangen.
60 Minuten sind lang. Wenn ihr in der Videoanalyse von Anfang an alles im Blick haben wollt, wird es schief gehen. Es ist gerade am Anfang sinnvoll, sich zuerst ein oder zwei Schwerpunkte herauszusuchen und dann speziell darauf zu achten. Wir empfehlen euch, bei den ersten Gehversuchen mit der Videoanalyse vor allem auf die Grundlagen zu achten.
Wir sind in der Videoanalyse inzwischen sehr detailverliebt und setzen in einem Video bis zu 80 Markierungen, aber je höher man pfeift, umso feiner wird eben auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Leistung. Am Anfang solltet ihr einfach aufpassen, euch nicht zu verzetteln - und dabei helfen die Schwerpunkte.
Natürlich lässt sich per Video nachvollziehen, ob es drei oder vier Schritte waren, aber wir würden euch empfehlen, solch regeltechnische Fragen erst einmal zweitrangig zu behandeln. Schaut stattdessen auf euer eigenes Auftreten und achtet darauf, wie ihr auf dem Spielfeld wirkt. Maike ist damals auf diesem Weg aufgefallen, dass sie gelbe Karten überhaupt nicht gut "präsentiert" hat und sie konnte gezielt daran arbeiten.
Auf dem Video seht ihr beispielsweise auch sofort, was ihr mit eurer Körpersprache vermittelt. Als Schiedsrichter wisst ihr in der Regel, bei welchen Pfiffen ihr unsicher gewesen seid. Und wenn ihr dann auf dem Video seht, dass ihr in so einer Situation einen Schritt rückwärts macht oder euer Blick weggeht, wisst ihr, woran ihr arbeiten könnt, um den unsicheren Pfiff zukünftig genauso gut zu verkaufen wie den sicheren Pfiff.
In jeder Videoanalyse werdet ihr euch ehrlich mit euch und euren eigenen Fehlern auseinandersetzen müssen, denn ein fehlerloses Spiel gibt es nicht. Dabei ist allerdings nicht entscheidend, wer von euch etwas falsch gemacht hat, sondern warum. Der Fehler ist ja längst passiert, er lässt sich nicht mehr ändern und eine Schuldzuweisung im Team hilft nicht. Es geht für euch gemeinsam darum, denselben Fehler in der Zukunft nicht noch einmal zu machen.
Wenn ihr euch zum Beispiel unter dem Blickpunkt Stellungsspiel mit einem falschen Pfiff beschäftigt, könntet ihr euch fragen: Warum haben wir diese Entscheidung falsch getroffen? Waren wir konditionell nicht auf der Höhe? Haben wir einen Meter zu weit links oder rechts gestanden? Oder haben wir im Team eine unterschiedliche Regelauffassung?
Einige von unseren Schiedsrichterkollegen schauen sich die Aufnahme von ihren Spielen getrennt an und sprechen anschließend darüber. Wir können euch hingegen aus unserer Erfahrung nur ans Herz legen, das Video im Team zu schauen - gerade, wenn ihr noch kein Headset habt und daher auf dem Feld nicht miteinander sprechen konntet.
Dann könnt ihr bei der gemeinsamen Analyse sofort in den Dialog gehen, der auf dem Feld nicht möglich war. Wenn wir eine knifflige Szene in der Videoanalyse haben, stoppen wir das Video auch sofort und sprechen direkt darüber. Außerdem hilft euch diese Zusammenarbeit, eure gemeinsame Spielauffassung zu vertiefen.
Neben der Frage, ob man das Video einzeln oder als Team schaut, gibt es bei uns im Kader auch in einem weiteren Punkt zwei Herangehensweisen: Schaut man sich "nur" die kniffligen Szenen an oder das ganze Spiel? Wir sind klare Verfechter der zweiten Variante, denn nur, wenn ihr ein Spiel vom Anfang bis zum Ende schaut, bekommt ihr ein Gefühl für die Partie und die eigene Linie.
Wenn wir nur eine einzelne Szene betrachten, kann die Entscheidung zwar vom Regelbuch her richtig sein, aber trotzdem nicht zur Linie passen.
Außerdem haben wir festgestellt, dass uns bei der Videoanalyse immer wieder Dinge auffallen, die wir nicht auf dem Zettel hatten - und die uns durchgerutscht wären, wenn wir nur von Szene zu Szene gesprungen wären. Außerdem lässt sich bei Ansicht des ganzen Spiels besser erkennen, ob sich die Entscheidungen im Spiel die Waage halten.
Wenn ein Verein unzufrieden ist, hängt das nicht nur mit richtigen oder falschen Entscheidungen zusammen, sondern oft damit, ob es ausgeglichen ist. Das lässt sich nachvollziehen, wenn man sich alles anschaut und versucht, das Spiel auch mal durch die Augen der jeweiligen Partei zu sehen. Das kann beim Verständnis enorm helfen.
Abgesehen von einem Smartphone und einem Stativ (siehe Tipp 2) braucht ihr erst einmal kein teures Equipment für die Videoanalyse. Auch ein aufwendiges Schnittprogramm ist nicht notwendig. Mit den üblichen Videoplayern wie beispielsweise Quicktime oder dem VLC media player, deren Download kostenlos ist, lassen sich Szenen ausschneiden oder in Slow Motion abspielen. Das reicht für den Anfang völlig aus.
Die erfolgreiche Arbeit mit der Videoanalyse ist ein Marathon, kein Sprint. Ihr werdet nach ein oder zwei Spielen vielleicht noch keinen Unterschied sehen, aber wir versprechen euch: Wenn ihr dranbleibt, zahlt sich die Arbeit aus. Wir trauen uns heute nicht mehr, Videos von vor zehn Jahren anzuschauen, denn wir würden uns nur fragen: Was zum Teufel haben wir damals eigentlich gemacht? Wenn man kontinuierlich mit der Videoanalyse arbeitet, sieht man mit der Zeit extreme Veränderungen.
Die Videoanalyse kann ein gutes Mittel zur eigenen Weiterentwicklung sein, aber sie ist keine Universallösung für alles. Ein Stoß in den Rücken ist beispielsweise häufig nicht erkennen, wenn man von der Mittellinie aus gefilmt hat. Seid daher nicht enttäuscht, wenn ihr eine Szene nicht final klären könnt, weil das Bildmaterial es nicht hergibt. Hakt das ab, fokussiert euch auf den Schwerpunkt, den ihr euch gesetzt habt und zieht das Maximum für euch heraus!
Und, ganz wichtig: Als Schiedsrichter beschäftigen wir uns alle viel zu oft nur mit unseren Fehlern. Die Videoanalyse sollte daher keine reine Fehlersuche sein. Natürlich wollt ihr durch die Videoanalyse besser werden, doch schaut euch nicht nur die Szenen an, die falsch waren oder die ihr besser lösen wollt - achtet bitte unbedingt genauso auf Situationen, die ihr richtig gut gemacht habt!
Schneidet euch gute Szenen wie einen gelungenen Vorteil ganz bewusst heraus und speichert sie euch ab. Es ist für das eigene Selbstwertgefühl als Schiedsrichter unheimlich wichtig, auch seine guten Szenen zu würdigen!
Tanja Kuttler & Meike Merz