11.11.2024, 19:00
Jannes Nowak aus Hamburg im Interview
Jannes Nowak ist seit 21 Jahren als Schiedsrichter im Hamburger Handball-Verband aktiv. Er ist jedoch nicht nur bis zur Oberliga im Gespann unterwegs, sondern pfeift auch in der inklusiven Freiwurf-Hamburg-Liga. Ein Interview über eine ganz andere Sicht auf Handball und Schiedsrichter.
Jannes, wie bist du dazu gekommen, in der Freiwurf Hamburg-Liga zu pfeifen?
Jannes Nowak: Das war ein lustiger Zufall (schmunzelt). Unsere Heimhalle war aufgrund eines Wasserschadens gesperrt und so ist das Spiel meiner C-Jugend, die ich damals trainierte, verlegt worden. Vor uns spielte eine Mannschaft, die ich noch nie gesehen hatte - und das war ein Spiel der Freiwurf-Liga, die immer wieder in die Regelbetrieb eingebettet sind.
Für alle, die nicht aus Hamburg kommen: Die Freiwurf-Hamburg-Liga ist eine inklusive Liga, die einen Spielbetrieb für alle ermöglichen will - egal, ob mit oder Behinderung und selbst inklusive Rollstuhl-Fahrern.
Genau. Ich habe das gesehen und dacht: Wow, das ist ja cool, das ist eine ganz andere Form von Handball, mit einem ganz anderen Grundgedanken, den ich sehr schöne finde. Ich habe mich mit dem Trainer Martin Wild unterhalten und er lud mich ein, bei ihnen zu pfeifen. Wozu ein Wasserschaden in der Halle führen kann (lacht).
Aus Schiedsrichter-Sicht: Was ist der größte Unterschied in Oberliga oder Landesliga?
Das kann man an einer ganz tollen Situation klarmachen. Die angreifende Mannschaft erzielt ein Tor und einer der Abwehrspieler läuft auf den Weg in den Angriff an mir als Schiedsrichter vorbei, sagt: "Boah, ist das ein geiles Tor" und gibt mir ein Highfive. Das klingt total surreal, wenn man sonst nur den leistungsorientierten Amateurhandball kommt, wo der Schiedsrichter das schwarze Schaf oder Spielverderber gesehen wird.
In der Freiwurf-Liga geht es darum, gemeinsam das Beste zu erreichen. Es ist unglaublich inklusiv und alle verbindet eine tiefe Freude an diesem Sport - und das auf einer Ebene, auf der jeder, der dort mitspielen will, teilhaben kann. Das ist etwas ganz reines im Handball, wo es nicht um Ehrgeiz geht. In der Oberliga diskutieren die Spieler mit dir, in der Freiwurf-Liga bekommst du - überspitzt gesagt - Applaus für einen Pfiff, weil du ja deine Aufgabe erfüllst.
Das klingt in der Tat sehr ungewöhnlich …
Trainer, Kampfgericht und Schiedsrichter ermöglichen es gemeinsam mit den Spielern, einen diversen Handball zu erschaffen. Das ist einfach nur schön.
Inwiefern sind alle Regeln anwendbar? Denn das Spiel sieht ja schon ein bisschen anders aus.
Die Sportart muss sich in diesem Punkt dem Sportler anpassen. Das ist auf der einen Seite faszinierend, auf der anderen Seite herausfordernd. Bei der Freiwurf Liga steht der Mensch im Vordergrund. Natürlich gibt es das Regelwerk und daran wollen wir uns auch bestmöglich halten, allerdings müssen wir schauen, wie wir alle Menschen dazu bekommen, dass sie mitspielen können - unabhängig von den Voraussetzungen, die der einzelne Spieler mitbringt.
Vielleicht ist der Gedanke ein bisschen vergleichbar mit der Überlegung, die man im Kinderhandball anstellt, wo ja auch basierend auf den Fähigkeiten der dort teilnehmenden Personen pädagogisch gepfiffen werden soll. Bei Freiwurf Hamburg muss sich der Handball auf die Spieler einstellen; er muss gucken, was der Spieler braucht und wie man das in einen fairen Wettbewerb gießt.
Wie funktioniert das in der Praxis?
Es ist für mich gerade am Anfang eine Herausforderung gewesen, aber es hat auch dazu geführt, ein viel besseres Verständnis zu entwickeln. Die Mannschaftsverantwortlichen geben dir als Schiedsrichter Ratschläge, man ist dort ganz anders im Dialog. Das Thema Regelsicherheit ist natürlich wichtig, aber es geht in erster Linie darum, einen schönen Spielfluss hinzukriegen und das eben nach den Möglichkeiten der Menschen, die mitspielen.
Welcher Tipp hat bei dir besonders Eindruck gemacht?
Am Anfang war ich schüchtern, was das Durchgreifen angeht. Ich habe mir gesagt: Guck dir das erst einmal an, lass das erstmal laufen, das ist ja auch gut für das Spiel. Da kam aber sehr schnell einer der Betreuer zu mir und sagte: "Bitte tu mir einen Gefallen, pfeif bitte völlige Härte bei dem Spieler, das tut ihm gut. Wir sehen den Fehler und wissen, dass wir den Ball verlieren werden, aber es bringt uns weiter." Ich dachte nur: "Wow, das ist eine klare Ansage!" Das hat mir jedoch sehr geholfen, ein Gespür zu entwickeln.
Apropos Härte: Inwiefern greifst du zur Progression?
Diese Liga zeichnet aus, dass sie eine sehr reflektierte Liga ist. Es gibt unter anderem einen Austausch von den Trainern nach den Spieltagen und es wird mit einer Sonderregel - der Vier-Tore-Regel - dafür gesorgt, dass niemand aus der Mannschaft heraussticht.
Und natürlich gibt es Menschen, bei denen sich zu viel Emotionalität in schlechter Energie ausdrückt, aber das wird oft von der Mannschaft selbst unterbunden. Das ist ganz anders als in der Oberliga Männer, wo ich als Schiedsrichter die Grenze mit der gelben Karte, der Zeitstrafe oder der Disqualifikation setzen muss. Eine gelbe Karte zu geben, kommt in der Freiwurf Liga vor, aber härtere Bestrafungen sind in der Regel nicht notwendig, weil sich die Mannschaften selbst regulieren.
Die Vier-Tore-Regel?
Genau, ein Spieler darf im Spiel nur vier Tore werfen, so kann keiner herausstechen. Das zählt das Kampfgericht mit und und informiert Schiedsrichter und Mannschaften, wenn ein Spieler sein drittes Tor geworfen hat. Dann wissen alle Bescheid, dass er noch ein Tor werfen darf - und die Treffer nach dem vierten Tor zählen nicht mehr, sondern es geht mit Abwurf weiter.
Zählen die Einsätze in der Freiwurf-Hamburg-Liga in deine Soll-Ist-Berechnung?
Ich kann sie mir anrechnen lassen, allerdings nicht in vollem Umgang, weil in der Freiwurf-Liga mit einer verkürzten Spielzeit von 2x 20 Minuten gespielt wird. Ich finde es schade, dass es noch nicht gleichwertig betrachtet wird, denn auch das ist aus meiner Sicht eine Frage der Inklusion bzw. Integration in den Spielbetrieb. Das gilt übrigens nicht nur für Freiwurf, sondern auch für Jugendspiele. Ein Spiel zu leiten, ist ein Spiel zu leiten - ob in der E-Jugend, der C-Jugend, der Landesliga Männer oder der Freiwurf-Liga sollte keine Rolle spielen.
Inwiefern ist die Freiwurf-Liga als Einsatzmöglichkeit für jeden Schiedsrichter geeignet?
Die Frage ist eher andersherum: Ist jeder Schiedsrichter geeignet, in der Freiwurf-Hamburg-Liga zu pfeifen? Es verlangt viel Mut als Schiedsrichter und es fordert die Bereitschaft, sich mit dem Thema Inklusion und der Diversität des Handballs auseinanderzusetzen. Wenn man als Schiedsrichter Lust hat, den Spaß am reinen Spiel mitbringt und neugierig auf eine viel konstruktivere Sichtweise auf diesen Sport ist, ist die Freiwurf-Hamburg-Liga eine schöne Ergänzung. Ich weiß jedoch aus eigener Erfahrung, dass nicht jeder Schiedsrichter dafür geeignet wäre.
Abschließend: Wie erlebst du generell die Schiedsrichter-Situation in Hamburg?
Es ist eine angespannte Situation, der Mangel ist da. Kurz gesagt: Wir haben zu wenig Schiedsrichter und brauchen Nachwuchs. Es ist schade, dass wir nicht hinkriegen, mehr Leute dafür zu begeistern. Ich muss jedoch auch sagen: Ich pfeife für den Bezirk Elbe und spüre langsam ein Umdenken, was die Position des Schiedsrichters angeht - dass er nämlich ein Mensch ist, der da steht, der das freiwillig macht und nicht von oben von einer bösen Aufsichtsbehörde geschickt wurde (schmunzelt). Ich kann daher immer nur animieren, es auszuprobieren. Es ist so ein toller Job, wie eine eigene Sportart aus körperlicher Betätigung und Schach im Kopf (lacht).
jun