11.09.2024, 08:44
Thorir Hergeirsson: Ein halbes Leben ganz für den Handball
Seit 1994, also seit genau 30 Jahren, ist der gebürtige Isländer Thorir Hergeirsson für den norwegischen Handballverband tätig. In der "zweiten Halbzeit" seiner Karriere vermehrte der 60-Jährige seit 2009 den Erfolg des A-Nationalteams mit zahlreichen Medaillen. Vor seinem Abschied muss Hergeirsson bei der EM im Dezember allerdings vermutlich noch den personellen Umbruch einleiten.
Thorir Hergeirsson wurde vor 60 Jahren in Selfoss geboren, südöstlich von Reykjavik, im Südwesten Islands. Mit Anfang 20 führten ihn der Weg 1986 nach Norwegen, um in Oslo an der Norwegischen Sporthochschule zu studieren. Zu Beginn seiner Karriere als Handballtrainer war er bis 1989 in Oslo tätig, in der Jugendabteilung und beim B-Team des schon lange nicht mehr existierenden Klubs von Frederiksborg/Ski, dessen Herrenteam Anfang der 80er-Jahre für Furore gesorgt hatte.
Hergeirsson war also mehrere Jahre für den Handballverein tätig, dabei sollten der Aufenthalt in Norwegen, nach Absprache mit der Familie, nach zwei Jahren enden. Daraus wurden bisher fast 40 Jahre. In der ersten Zeit habe der Isländer wohl einen Rekord für Flugreisen zwischen Norwegen und seiner Heimat aufgestellt, heißt es in einem Artikel der Zeitung "Aftenposten" von 2007. "Hergeirsson wird ein extremer Siegerinstinkt nachgesagt", heißt es darin. Der Erfolg als Trainer war wohl entscheidend, dass die Familie ihm gestattete, in Norwegen zu bleiben, denn der stellte sich bald ein.
Auf Empfehlung des heutigen Doping-Experten Dag Vidar Hanstad, der ihn von der Hochschule kannte, wurde der Absolvent Thorir Hergeirsson jedenfalls 1989 in Elverum als Trainer der Männer vorgestellt. Die Entscheidung für den "ambitionierten und talentierten" 25-Jährigen sei knapp gewesen, heißt es in der Chronik des Vereins, der damals klamm und in Abstiegsnot war. Der Isländer wird darin als "Goldvogel" bezeichnet, denn mit seiner "mürrischen", aber auch fordernden und motivierenden Art und einigem Handball-Erfindergeist legte er die Basis für Elverum erstes Ligafinale 1995.
Da war Hergeirsson aber schon nicht mehr Trainer dort. Er wollte "seine Ausbildung beenden", wie es in der Vereinschronik heißt - und wurde im selben Jahr Nationaltrainer des weiblichen Nachwuchses. Marit Breivik, seine Vorgängerin im Amt des A-Nationaltrainers, war ebenfalls 1994, zeitgleich mit dem Isländer, berufen worden. Sie sollte es, wie Hergeirsson, 15 Jahre lang innehaben. Dass die norwegischen Frauen seit 1984 nur drei verschiedene Nationaltrainer hatten, ist wohl eines der Geheimnisse für den steten Erfolg, den das Team unter anderem als Rekordeuropameister hat.
Parallel zum Job als Nachwuchs-Nationaltrainer führte er die Frauen von Gjerpen IF 1996 ins Endspiel des damaligen City-Cups, danach verschwand der Klub jedoch für zehn Jahre von der europäischen Bühne. Das Engagement bei den Männern von Nærbø (1999-2001) war dann das letzte bei einem Verein, denn Hergeirsson wurde hauptamtlicher Co-Trainer der A-Nationalmannschaft, was damals sicherlich ungewöhnlich im Frauensport war und den schon damaligen Stellenwert in Norwegen zeigt.
Der heute 60-Jährige prägt also die Entwicklung des norwegischen Frauenhandballs seit Mitte der 90er-Jahre, seit 2001 in zunehmend verantwortlicher Position im A-Nationalteam - also insgesamt seit ziemlich genau 30 Jahren, über sein halbes Leben hinweg. Zu Silvester 2024 wird, nach 15 Jahren als A-Nationaltrainer, Schluss sein. Norwegen blickt auf eine höchst erfolgreiche Ära: Nur zweimal verpassten die Norwegerinnen in dieser Zeit ein Halbfinale, bei der WM 2013 und der EM 2018.
Fünf Europameistertitel, drei gewonnene Weltmeisterschaften und zweimal Olympisches Gold resultierten unter der Regie von Thorir Hergeirsson. In den Jahren ohne Halbfinalteilnahme war Rang fünf das schlechteste Ergebnis. Das zeugt von einer immensen Kontinuität und überstrahlt die Arbeit seiner erfolgreichen Vorgängerin Marit Breivik, mit der er gemeinsam am Nimbus der (fast) Unbesiegbaren gebaut hatte. 2011, 2012 und 2015 wurde Hergeirsson daher von der IHF als "Trainer des Jahres" ausgezeichnet, 2017 erhielt er den Norwegischen Verdienstorden als "Ritter 1. Klasse".
"Ich muss viel mental und visuell arbeiten", wird Hergeirsson in dem Aftenposten-Artikel von 2007 zitiert. Seine Präsentations-Einlagen, auch bei Medientreffen des Nationalteams mit Journalisten, mit Flipcharts und weiteren Hilfsmitteln, dürften als legendär durchgehen. "Ich bin immer optimistisch. Es geht darum, den eigenen Flow in der Meisterschaft zu finden und hart daran zu arbeiten, dorthin zu gelangen." Mit dieser Herangehensweise, aber auch der Belastungssteuerung und einer stets gemehrten, riesigen Sachkunde, hat der heute 60-Jährige den steten Erfolg herbeigeführt.
Nun gilt es, für die Europameisterschaft im Dezember ein siegfähiges Team zu formen und den bisher insgesamt 16 Medaillen möglichst eine weitere hinzuzufügen, denn es ist das erste Großturnier nach der Ära mit Spielmacherin Stine Oftedal. Dabei vertraut der norwegische Verband noch einmal auf den "brillanten Leader", wie Präsident Kåre Geir Lio den Isländer bei der Pressekonferenz adelte, als der Abschied von Hergeirsson zum nächsten Jahreswechsel bekanntgegeben wurde.
Nicht bei der Europameisterschaft 2024 im Kader ist neben der zurückgetretenen Spielmacherin Oftedal die Rückraumlinke Veronica Kristiansen aufgrund ihrer Schwangerschaft. Nora Mørk hat sich wegen Schmerzen eine Pause ausbedungen. Mit Kristine Breistøl (Rückraum links), Stine Skogrand, Kari Brattset Dale (beide Kreis), Silje Solberg-Østhassel, Katrine Lunde (beide Tor), Sanna Solberg-Isaksen und Camilla Herrem (beide Linksaußen) sind zahlreiche Spielerinnen aus dem Olympiakader teils deutlich älter als 30 Jahre, mehrere weitere Akteurinnen kratzen an dieser Marke.
Vielleicht werden einige dieser Spielerinnen ihre Rücktritte bis nach der EM aufschieben, vielleicht sind einige enttäuscht, weil sie kurzfristig von der Entscheidung erfuhren. Für Thorir Hergeirsson, den Stab und die Spielerinnen stehen nun wichtige Themen an. Vielleicht muss er um Jungstar Henny Reistad noch einmal eine neue Mannschaft aufbauen - vielleicht will er einen Umbruch einleiten, bevor er sich ab 2025 anderen Aufgaben zuwendet. "Wir müssen uns hinsetzen und reden", hatte der Isländer nach dem Olympia-Finale gesagt. Die Gespräche für die EM werden wohl ab sofort geführt.