12.06.2024, 16:16
Sebastian Grobe und Adrian Kinzel in Bock auf Handball:
Die Schiedsrichter Sebastian Grobe und Adrian Kinzel beenden nach zwölf Jahren in der 1. Männer-Bundesliga ihre Karriere. Die beiden Freunde haben jedoch nicht nur im Handball eine erfolgreiche Karriere hingelegt - auch beruflich können Bauingenieur Grobe und Neurochirurg Kinzel eine beeindruckende Laufbahn vorweisen. Der Erfolg auf beiden Spielfeldern hängt, da sind sie sich einig, eng zusammen. In der Sonderausgabe "Schiedsrichter" von Bock auf Handball gaben sie im vergangenen Jahr einen Einblick.
Ebenso, wie es Spiele gibt, die der Schiedsrichter Adrian Kinzel nicht vergisst, gibt es auch menschliche Schicksale, die sich in das Gedächtnis des Arztes Adrian Kinzel eingebrannt haben. 2015 behandelte der Neurochirurg eine schwangere Patientin mit einem bösartigen Hirntumor, einem so genannten Glioblastom. Das Kind wurde per Kaiserschnitt auf die Welt geholt, doch trotz Therapie kehrte der Krebs schnell zurück.
Die Überlebenschancen bei einem Glioblastom sind gering. "Es war unser großes Ziel, dass sie ihr Kind einmal in den Kindergarten bringen kann", erinnert sich Adrian. "Denn dann wäre es hoffentlich alt genug, um sich an seine Mutter zu erinnern." Neben der üblichen Chemotherapie setzte der Mediziner auf eine neuartige Behandlung namens Optune®, die - vereinfacht ausgedrückt - die Teilung der Krebszellen auf physikalische Art und Weise hemmt. So wird das Wachstum des Tumors verlangsamt und, im Idealfall, ein Absterben der Krebszellen herbeigeführt.
"Wir waren eine der ersten Kliniken, die diese Therapie außerhalb von klinischen Studien angewendet hat, aber wir hatten auch nichts zu verlieren", sagt Adrian rückblickend. Dank der so genannten Tumor Treating Fields (TTFields) gelang es ihm und seinen Kollegen, die damalige Lebenserwartung der Patientin von unter zwölf Monaten auf drei Jahre auszudehnen. "Sie hat", sagt Adrian, "ihr Kind in den Kindergarten bringen können. Das hat uns alle berührt."
Der leidenschaftliche Mediziner war von der neuen Therapieform fasziniert. Als die Entwicklerfirma Novocure auf ihn zukam, traf Adrian eine Entscheidung, die eigentlich undenkbar für ihn gewesen war: Er kehrte dem Krankenhaus den Rücken und heuerte bei dem weltweit tätigen Onkologie-Unternehmen an. "Für mich war eigentlich immer klar, dass ich meine Karriere in der Neurochirurgie mache und vielleicht einmal Chefarzt werden kann, aber so eine Gelegenheit wie diese bekommst du nur einmal im Leben", begründet er. "Ich habe mir gesagt: Statt 30 Patienten auf einer Station hast du die Chance, mehreren tausend Menschen mit deinem Wissen und deinen Ideen zu helfen."
Als 'Medial Director' für Europa stieg Adrian ein, damals arbeitete nur eine Handvoll Menschen für Novocure. Inzwischen beschäftigt die Firma weltweit über 1.000 Mitarbeiter, hat Zweigstellen in Tokio und New York und eine eigene Forschungseinrichtung in Haifa (Israel). Und Adrian gehört, inzwischen zum 'Vice President Global Medical Affairs' aufgestiegen, zu den wichtigsten Mitarbeitern des Unternehmens im medizinischen Bereich.
Der 39-Jährige kümmert sich weltweit um die Durchführung von Studien, steht in Kontakt mit den Kliniken und berät Ärzte bei der Anwendung der Therapie. Er ist verantwortlich für den medizinischen Bereich der Firma in Europa, Israel und Japan; das Budget, das er kontrolliert, liegt im zweistelligen Millionenbereich. Seine Entscheidungen sind essentiell für die Strategie des Unternehmens. "Es ist wahnsinnig spannend und macht unglaublich viel Spaß", schwärmt er. Aktuell laufen Studien, ob sich die TTFields-Therapie auch für andere Krebsarten anwenden lässt - die Entwicklung ist noch nicht am Ende.
"Als ich das erste Mal von dieser Therapie gehört habe, dachte ich: Das ist Medizingeschichte, die geschrieben wird", erinnert Adrian sich - und in den vergangenen sieben Jahren schrieb er die Geschichte entscheidend mit. "Wir haben nicht nur eine Firma aufgebaut - wir haben eine Realität entwickelt, die vorher nicht da war", sagt er stolz. "Es gab viel Widerstand, aber ich war von dieser Vision überzeugt - und wir haben es geschafft, für abertausend Menschen einen Unterschied zu machen."
Mit der großen Verantwortung seiner Position umzugehen, hat Adrian Schritt für Schritt gelernt. "Ich bin mit den Aufgaben gewachsen", sagt er. "Früher, wenn ich mit dem Skalpell im OP-Saal stand, wusste ich, dass ich mit einer falschen Bewegung ein Menschenleben gefährde. Es gibt keine größere Verantwortung. Heute trage ich - wenn auch auf andere Art - immer noch dieselbe Verantwortung."
Der Schritt aus dem Krankenhaus war für Adrian - trotz aller Fachkenntnis - ein Schritt aus der Komfortzone heraus. "Ich mochte den Umgang mit den Patienten und habe mich im Krankenhaus sicher gefühlt", sagt er. "Der Wechsel zu Novocure, auf ein komplett neues Terrain, war ein Risiko." Bereut hat er den Schritt nicht: "Ich bin mein eigener Herr und habe - bis zu einem gewissen Grad - durch die Verantwortung eine große Freiheit. Das ist ein schönes Gefühl."
Die globale Führungsposition in seiner Firma, die Adrian diese Freiheit beschert, hat er sich hart erarbeitet. "Ich hatte", sagt er heute, "relativ früh einen Plan". Er wählte seine Leistungskurse mit Blick auf das Medizinstudium („warum nimmt man sonst Chemie?“), verliebte sich im dritten Semester in die Neurochirurgie und widmete sich nach dem Staatsexamen seiner Promotion.
2012 legte Adrian seine Doktorarbeit vor. Der Titel? Mikrochirurgische und histologische Analyse einer temporalen und periostalen meningealen Duraeröffnungszone zur interduralen Freilegung des dorsolateralen Sinus cavernosus. Die mündliche Verteidigung lernte er auf die Sekunde auswendig, um innerhalb der erlaubten Zeit alles Wichtige unterzubringen - dass er sich dann allerdings direkt beim Titel verhaspelte, lässt ihn heute schmunzeln.
Sein praktisches Jahr absolvierte er in Bochum, bevor er als frisch gebackener Doktor anschließend nach Duisburg gewechselt ist. Trotz der 24-Stunden-Dienste im Krankenhaus liebte er den Beruf. Noch heute leuchten seine Augen, wenn er davon spricht. "Du musst dir das mal vorstellen: Du steht im OP, guckst durch das Mikroskop und hast das Gehirn eines echten Menschen vor dir liegen", schwärmt Adrian. "Das ist einfach ein einmaliges Gefühl. Daher fiel es mir auch so schwer, das Krankenhaus zu verlassen."
Obwohl er bereit war, für den neuen Arbeitgeber seinen Traum von der Habilitation hintenanzustellen, gab es eine Sache, die er im Sommer 2015 nicht opfern wollte: Die Schiedsrichter-Karriere. Zwei Jahre zuvor war er gemeinsam mit Sebastian Grobe in den Elitekader des Deutschen Handballbundes aufgestiegen. Bei Novocure ließ sich Adrian daher vertraglich zusichern, weiter pfeifen zu dürfen. Der Geschäftsführer kommentierte das relativ unbeeindruckt mit den Worten: "Wenn du Bock darauf hast, dich von 10.000 Leuten auspfeifen zu lassen - feel free!" Bis heute findet sich die Klausel in seinem Arbeitsvertrag.
Die Schiedsrichterei, das weiß er, nutzte ihm genauso im Beruf wie die Erfahrungen aus dem Job auf dem Spielfeld. "Du lernst in der Medizin sehr viel über Kommunikation, über den Umgang mit Stress und Emotionen. Dieses Handwerkszeug hat mir auch als Schiedsrichter geholfen", ist Adrian überzeugt. "Und als Schiedsrichter lernst du, Entscheidungen unter Druck zu treffen, zu deinen Entscheidungen zu stehen und mit Fehlern umzugehen. Das wird im Berufsleben sehr geschätzt."
Diese Erfahrung hat auch Sebastian Grobe gemacht, der auf einem völlig anderen Berufsfeld ein ebenso beeindruckende Laufbahn wie sein Freund hingelegt hat. Als Führungskraft bei Volkswagen Immobilien verantwortet der 41-Jährige als Bauingenieur bis zu 40 Projekte parallel. Mit einem Team von knapp 20 Mitarbeiten kümmert sich Grobe um den Neubau von Logistikimmobilien und Autohäusern, verhandelt als Bauherr mit Städten, Architekten sowie ausführenden Firmen und akquiriert neue Grundstücke.
Die Begeisterung für das Baugewerbe hat Grobe geerbt; die Familie besitzt seit 110 Jahren eine mittelständische Baufirma. Er studierte Bauingenieurwesen, hängte in den USA einen Master of Business Administration dran und fing 2010 als Projektleiter bei Volkswagen Immobilien an. Seitdem hat sich Grobe hochgearbeitet und übernahm nach und nach immer neue Bereiche. Sein Beruf führt ihn quer durch Europa und bis nach China.
Wenn er von seiner Arbeit spricht, gerät er schnell ins Schwärmen. "Bauen ist etwas ganz besonderes, das können viele nicht verstehen", beschreibt der 41-Jährige. "Bauen ist ein emotionales Thema, denn jede Baustelle ist einzigartig. Es ist eine eigene Welt, in der es auf einen fairen und ehrlichen Umgang mit den verschiedensten Menschen ankommt."
Genau das ist für ihn der Reiz seines Jobs: Während er an einem Tag im Baustellencontainer sitzt, stellt er am nächsten in Schlips und Kragen ein Projekt im Büro des Konzernvorstands vor. Der Spagat ist für den zweifachen Familienvater das "Salz in der Suppe", wie es ausdrückt. Er fühlt sich mit Bauhelm genauso wohl wie im Anzug - nur Krawatten hat er inzwischen abgeschworen.
Wie Adrian erkennt auch Sebastian die Parallelen zwischen dem Beruf und dem Handball. "Sowohl auf dem Spielfeld als auch auf der Baustelle passieren viele Fehler und es gibt Probleme, die man nur mit Kommunikation lösen kann." Dass er mit der stetig wachsenden Verantwortung umgehen konnte, hat er auch dem Pfeifen zu verdanken: "Es war wie ein unsichtbares Zertifikat, denn die Menschen verbinden viele positive Attribute mit dem Amt des Schiedsrichters."
Was zuerst kam - der berufliche Erfolg oder der Erfolg als Schiedsrichter - ist für sie wie die Frage nach Henne und Ei. "Es bedingt sich gegenseitig", sagt Sebastian. "Es ist eine Symbiose", sagt Adrian. "Ich bin nur da, wo ich jetzt bin, weil das Gesamtpaket so ist, wie es ist"
Zu diesem Gesamtpaket gehört auch ihre enge Freundschaft, zusammengeschweißt durch unzähligen Stunden auf der Autobahn und Übernachtungen im Doppelzimmer. Beide haben, das betonen sie ausdrücklich, in den vergangenen 20 Jahren unheimlich viel voneinander gelernt: Sebastian brachte Adrian bei, besser mit Kritik umzugehen („Da hat Basti viel bei mir erreicht.“), durch Adrian lernte Sebastian, sich nicht alles zu sehr zu Herzen zu nehmen („Er hat ein sehr ausgeprägtes Selbstbewusstsein im positiven Sinne und kann Dinge viel besser abhaken.“).
Ihre Gespräche drehen sich dabei längst nicht nur um den Handball, sondern auch um ihre Familien und den Job. "Adrian findet spannend, was ich mache und ich finde es spannend, was er macht", beschreibt Sebastian. "Wir haben beide einen ähnlichen Ehrgeiz." Und sie unterstützen sich gegenseitig - als Adrian mit seiner Frau vor der Geburt ihrer Tochter auf der Suche nach einer Eigentumswohnung war, war Sebastian sein erster Ansprechpartner.
Dass beide nicht nur beruflich, sondern auch im Handball so weit gekommen sind, macht das Duo stolz. "Es waren viele düstere Tage dabei, aber wir haben nicht aufgegeben", betont Sebastian. "Es ist uns gelungen, daran zu wachsen." Die Nominierung für das REWE Final Four 2022 war die - vorläufige - Krönung. Sebastian: "Es ist das Größte, was du als Schiedsrichter auf nationaler Ebene erreichen kannst."
Das hohe Level auf beiden Spielfeldern war jedoch durchaus eine Herausforderung - und hin und wieder auch purer Kampf. "Es gab in den letzten Jahren immer wieder Phasen - und die gibt es heute noch -, in denen wir Schwierigkeiten hatten, alles unter einen Hut zu bekommen", gesteht Adrian offen ein. "Es geht nur, weil alle mitspielen - unsere Familien, unsere Arbeitgeber und die Verantwortlichen im Schiedsrichterwesen."
Der Handball ist allerdings auch ein Ausgleich zu der Verantwortung im Berufsalltag. "In dem Moment, in dem ich das Spiel anpfeife, kann ich alles andere ausblenden", beschreibt Adrian. "Natürlich stehen wir auch dort unter Druck, aber ich kann ganz viel Energie aus dem Pfeifen ziehen." Sebastian fasst es schlicht und einfach zusammen: "Es macht einfach Spaß, beim geilsten Sport der Welt dabei zu sein."
Das obige Stück stammt aus der Sonderausgabe "Schiedsrichter" von Bock auf Handball, die wie alle früheren Ausgaben weiter - innerhalb Deutschlands versandkostenfrei - im Online-Shop erhältlich ist. Im Mai ist bereits die Ausgabe 15 erschienen.
Highlights in Ausgabe 15 auf 124 Seiten (Erscheinungsdatum 21. Mai 2024)
Eine große Bildergeschichte gibt einen exklusiven Blick hinter die Kulissen beim deutschen Topklub SC Magdeburg. Zudem haben wir mit Uwe Gensheimer über sein Karriereende gesprochen, Füchse-Keeper Dejan Milosavljev einen Besuch in Berlin abgestattet, Hendrik Pekeler auf seinem Dachboden zu Hause besucht und mit der deutschen Nationaltorhüterin Dinah Eckerle über das noch nicht ganz normale Chaos zwischen Profisport und Mutterschaft gesprochen.
- mehr als 30 Seiten exklusiv hinter den Kulissen des SC Magdeburg
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Über Bock auf Handball
Bock auf Handball erzählt interessante Geschichten über die Stars des Handballs. Das Einzelheft gibt es für 7,00 Euro im gut sortierten Zeitschriftenhandel sowie im Online-Shop als Einzelheft - versandkostenfrei in Deutschland - und im Abo. Zudem gab es im vergangenen Jahr ein Sonderheft zum THW Kiel und eines zum Themenbereich Schiedsrichter im Handball.
jun